Der Schleier ist das Symbol für Unterdrückung überhaupt
dokumentiert*
Mahsa Amini, eine 22jährige Iranerin aus Iranisch-Kurdistan, war mit ihrer Familie auf Verwandtenbesuch nach Teheran, als sie von der Sittenpolizei aufgegriffen wurde. Sie trug den vorgeschriebenen Hijab (Schleier, Kopftuch) nicht, wie das Gesetz es verlangt. Sie wurde verhaftet und geschlagen, Tage später starb sie in einem Krankenhaus in Teheran an ihren Verletzungen. Ihr Tod hat eine enorme Protestwelle ausgelöst, die durch alle sozialen Schichten, alle Ethnien geht und alle Regionen des Landes erfasst.
Mahsa heißt in Wirklichkeit Jhina, denn sie ist Kurdin. Im Iran sind kurdische Namen aber verboten; offiziell registriert werden nur persische Namen. Ihr Tod ist dem zunehmenden Angriff auf Frauenrechte geschuldet, seit der neue Staatspräsident, der Hardliner Ebrahim Raisi, im Amt ist. Er verantwortet persönlich Todesurteile gegen 6000 politische Häftlinge im Jahr 1988 – in der Mehrzahl Mudjaheddin und Kommunisten. Nach seinem Amtsantritt am 3.August 2021 hat er ein Dekret erlassen, die Einhaltung der Gesetze über die Kleiderordnung für Frauen in der Öffentlichkeit strikter zu überwachen. Daraufhin regnete es Verhaftungen, Gefängnisstrafen und öffentliche Demütigungen von Frauen, die sich dem verordneten Dresscode entziehen wollten. Die Regierung hat sogar angekündigt, sie wolle elektronische Gesichtserkennung einsetzen, um Frauen zu identifizieren, die etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln gegen die Kleiderordnung verstoßen. Einige Frauen wurden dabei gefilmt und mit Hilfe dieser Videos von der Polizei verhaftet. Die Videos zeigten, wie sie von den Mitfahrenden angepöbelt werden. Eine von ihnen, die 28jährige Sepideh Rashno, wurden deswegen offenbar geschlagen und dann gezwungen, im Fernsehen die Person, die sie im Bus angegriffen hatte, um Verzeihung zu bitten.
Es geht ums Ganze
Frauenmobilisierungen sind im Iran nicht neu. Seit über einem Jahrhundert kämpfen Frauen dort für ihre Rechte. Vom Verfassungskampf 1905–1911 über die Revolution gegen den Shah 1979, die Eine-Million-Unterschriften-Kampagne 2006–2009 bis zur Grünen Bewegung 2009 und den sozialen Protesten 2019: Immer standen Frauen im Zentrum der Mobilisierungen. Sie kämpften an der Seite anderer gesellschaftlicher Sektoren, aber auch allein für Demokratisierung und Geschlechtergleichheit. Schon in den Wochen nach der Revolution von 1979 protestierten Frauen gegen den von Ayatollah Khomeini eingeführten Schleierzwang. Die Einführung der Sittenpolizei war eine von Khomeinis ersten Maßnahmen, mit denen er eine umfassende Kontrolle über die Bevölkerung erlangen wollte. Die Polizei terrorisiert die Bevölkerung, insbesondere die Jungen. Sie steht vor jeder Hochschule und jeder Oberschule und kontrolliert, wie die Leute angezogen sind, was sie in ihr Handy schreiben, usw.
In den früheren Kämpfen ging es immer nur um Reformen in einzelnen Teilgebieten. Diesmal ist es anders, diesmal geht es ums Ganze. Die Kleiderordnung, das Missmanagement der Covid-19-Pandemie, die Wirtschaftskrise, die Teuerung, die Auswirkungen der Sanktionen gegen den Iran – all das zusammengenommen hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Der Schleier ist zum Symbol für Unterdrückung, Schikane und Ausbeutung überhaupt geworden. Frauen verbrennen ihren Schleier offen auf der Straße, schneiden sich die Haare ab, setzen sich unverschleiert ins Café und legen ihre unförmig wallenden Kleider ab.
Zum erstenmal seit 43 Jahren verbreitet sich die Revolte im ganzen Land, nicht nur im kurdisch oder arabisch dominierten Landesteil. In den Städten ist die Repression geringer, auf dem Land stärker. Alle Gesellschaftsklassen nehmen daran teil, Arme und Arbeiter ebenso wie Mittelschichten. Die Hauptparole ist Freiheit, nicht wirtschaftliche Forderungen: »Tod dem Diktator! Frauen, Leben, Freiheit!« Der Protest richtet sich nicht mehr gegen einzelne Missstände, auch nicht gegen den Islam, sondern gegen das islamistische Regime. In der Stadt Sari erkletterte ein Demonstrant die Fassade des Rathauses und zerstörte das Bild von Khomeini. Ein Berater des liberaleren Ayatollahs Khamenei richtete der Familie der getöteten Mahsa dessen Beileid aus. Doch keine der regimenahen Organisationen kontrolliert die Proteste.
Diese richten sich nicht einmal gegen das Tragen des Schleiers an sich. Tatsächlich demonstrieren Frauen mit und ohne Schleier Seite an Seite. Die Proteste richten sich gegen den allgegenwärtigen Zwang und die erdrückende Gewalt patriarchalischer Strukturen. Den Schleier verbrennen heißt, das Regime verbrennen.
Einheit, Einheit
Die Studierenden haben zu Streiks an Schulen und Universitäten aufgerufen; die Lehrergewerkschaft hat sich angeschlossen. In mehreren Städten verlassen Schüler:innen den Unterricht, um sich den Demonstrationen anzuschließen. Die Sharif-Universität in Teheran wurde besetzt. 60 Prozent der Bevölkerung im Iran sind unter 30 Jahre alt. Und sie nutzen das Internet, sie kennen die Welt außerhalb und sind schwerer zu zähmen.
Auch die Arbeiter haben sich angeschlossen: Die Busgewerkschaft VAHED in Teheran hat sich gleich am Anfang mit den Frauen solidarisiert; viele ihrer führenden Mitglieder sitzen seit Mai im Gefängnis. Anfang Oktober haben die Beschäftigten in der Erdölindustrie zum Streik aufgerufen. In Kurdistan gab es mehrere Generalstreiks, bei denen ganze Städte verriegelt und lahmgelegt wurden. Es kursiert die Parole »Studierende, Arbeiter:innen, Einheit, Einheit«.
*Quelle: mehrere Artikel von der Webseite www.europe-solidaire.org
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