In 180 Tagen 800000 Soldaten an die Ostfront
von Jürgen Wagner
Spätestens seit 2014 gilt folgende Regel: Die NATO formuliert ambitionierte Zielvorgaben und Deutschland erklärt prompt seine Bereitschaft, bei deren Umsetzung eine Führungsrolle einnehmen zu wollen. Mit den Entscheidungen des NATO-Gipfels in Madrid Ende Juni 2022 und den anschließend angekündigten Plänen zum Umbau der Bundeswehr hat das Ganze nun aber eine ganz neue Dimension angenommen.
Die Auftritte der damaligen Spitzenpolitiker:innen Joachim Gauck (Bundespräsident), Ursula von der Leyen (Verteidigungsministerin) und Frank-Walter Steinmeier (Außenminister) Anfang Februar 2014 bei der Münchner Sicherheitskonferenz leiteten eine neue Phase deutscher Militärpolitik ein. Künftig sei es erforderlich, dass Deutschland – auch und gerade militärisch – eine Führungsrolle übernehme, so die damals erhobene Forderung.
Angesichts der nahezu parallel erfolgten Eskalation im westlich-russischen Verhältnis wurde diese Ankündigung umgehend in die Tat umgesetzt. So traf die NATO beim Gipfeltreffen in Wales im September 2014 zahlreiche Entscheidungen, bei denen Deutschland fast überall eine führende Rolle einnahm. Im Zentrum stand damals der Ausbau der Schnellen NATO-Eingreiftruppe (Nato Response Force – NRF) von 13000 auf 40000 Soldat:innen sowie der Aufbau einer in noch kürzerer Zeit verlegbaren Ultraschnellen Eingreiftruppe (Very High Readiness Joint Task Force – VJTF), der NATO-Speerspitze, was unter deutscher Führung erfolgte.
Beim Gipfel in Warschau wurde dann im Juli 2016 die permanente Stationierung von vier NATO-Bataillonen (à 1000–1500 Soldat:innen) in den baltischen Staaten und Polen in unmittelbarer Nähe zu Russland beschlossen. Damit wurde schon damals die NATO-Russland-Akte aus dem Jahr 1997 und die darin enthaltene Zusage, die NATO werde keine substanziellen Kampftruppen dauerhaft in Osteuropa stationieren, faktisch versenkt – und das erneut unter zentraler deutscher Beteiligung, denn die Bundeswehr übernahm die Führung über das NATO-Bataillon in Litauen.
Als nächste wichtige Station erwies sich die NATO-Tagung in Brüssel im Juli 2018, unter anderem, weil dort die Einrichtung eines neuen NATO-Logistikzentrums beschlossen wurde, das für die schnelle Verlegung von Soldat:innen und Gütern Richtung Russland zuständig sein soll. Dieses JSEC (Joint Support and Enabling Command) genannte Kommando wurde im September 2021 für voll einsatzbereit erklärt und befindet sich in Ulm. Ferner wurde dort die Aufstellung eines NATO-Marinekommandos in Rostock beschlossen, dessen Zuständigkeit vor allem die Ostsee umfassen wird.
Der deutsche Beitrag
Parallel sagte Deutschland zu, der NATO diverse Großverbände für »Auseinandersetzungen mit nahezu gleichrangigen Gegnern« zur Verfügung zu stellen, wie es im Militärsprecher heißt. Dabei handelt es sich um eine Mammutaufgabe, waren genau solche Einheiten doch in den 1990er und 2000er Jahren zugunsten schnell verlegbarer Truppen für Einsätze gegen kleine oder allenfalls mittelgroße Gegner im globalen Süden ersetzt worden.
Konkret wurde mit dem Fähigkeitsprofil der Bundeswehr vom September 2018 folgender Fahrplan ausgegeben: Bis 2023 sollte eine voll ausgestattete schwere Brigade (etwa 3000–5000 Soldat:innen), bis 2027 eine Division (15000–20000 Soldat:innen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO eingespeist werden.
Um dies zu ermöglichen, bedarf es eines massiven Aufwuchses an Personal: von derzeit rund 180000 Soldat:innen soll die Truppe baldmöglichst in einem ersten Schritt auf 198500 (plus 4500 Reservist:innen) anwachsen. Gleichzeitig wurden bereits vor dem Ukrainekrieg eine ganze Reihe kostspieliger Rüstungsprojekte auf den Weg gebracht, um die im Aufbau befindlichen schweren Einheiten mit dem entsprechenden Gerät zu versorgen. Außerdem kam es zu einer massiven Erhöhung des Rüstungshaushalts von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. Euro (2021).
Obwohl also schon in dieser Phase durchaus von einem regelrechten Militarisierungsschub gesprochen werden kann, waren ihm lange Zeit vor allem finanzielle Grenzen gesetzt. Diese sind mit der am 27.Februar 2022 von Kanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende und dem Bundeswehr-Sondervermögen von 100 Mrd. Euro weitgehend obsolet geworden.
Das neue Streitkräftemodell der NATO
Im Zuge des NATO-Gipfels in Madrid Ende Juni 2022 wurden eine ganze Reihe weiterer wichtiger Entscheidungen getroffen, unter anderem die Aufnahme Schwedens und Finnland in die NATO. Vor allem zwei Beschlüsse aber werden sich maßgeblich auf die Bundeswehr auswirken:
Einmal wurde die schon länger im Raum stehende Ausweitung der seit 2016 in Osteuropa stehenden NATO-Bataillone auf vier weitere Länder (Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien) beschlossen. Zumindest einige dieser Bataillone sollen auf Brigadestärke (etwa 3000–5000) aufgestockt werden.
Schon vor Gipfelbeginn hatte Deutschland angekündigt, für das Litauen-Bataillon zumindest die Führungsstrukturen für eine »robuste Kampfbrigade« dorthin verlegen zu wollen. Auch an dem Anfang Oktober 2022 für voll einsatzbereit erklärten Gefechtsverband in der Slowakei ist die Bundeswehr mit rund 500 Soldat:innen beteiligt.
Noch weitreichender war die auf dem NATO-Gipfel beschlossene Einführung eines neuen Streitkräftemodells (New Force Model – NFM), sie soll bis Ende 2024 die bisherige Schnelle Eingreiftruppe im Umfang von 40000 Soldat:innen ersetzen. Von da ab will die NATO in der Lage sein, innerhalb von maximal zehn Tagen bis zu 100000 Soldat:innen verlegen zu können, bis spätestens Tag 30 sollen weitere 200000 folgen können. Zwischen Tag 30 und Tag 180 soll es dann möglich sein, noch einmal weitere 500000 Soldat:innen nachzuschieben.
Wie beschrieben, wurde ursprünglich anvisiert, »erst« 2027 eine voll bewaffnete – kaltstartfähige – Division in die NATO einspeisen zu können. Nachdem zuvor schon über einen beschleunigten Zeitplan gemutmaßt worden war, hieß es dann anlässlich der Vorstellung des NATO-Streitkräftemodells, Deutschland habe zugesagt, hierfür ab 2025 eine Division, 65 Kampfjets und Transportflieger sowie 20 Kriegsschiffe beizusteuern. Auf der Internetseite der Bundeswehr war dazu zu lesen: »Für das NFM stellt Deutschland bis zu 30000 Soldatinnen und Soldaten sowie 85 Flugzeuge und Schiffe. Diese Zahlen beziehen sich auf die ersten 30 Tage, nachdem der Einsatz dieser Kräfte entschieden wurde … Bei Bedarf stehen danach weitere Folgekräfte planerisch zur Verfügung, erklärt [Oberstleutnant i.G. Asbjörn] Wenig, denn insgesamt umfasst das NFM nahezu die gesamten deutschen Streitkräfte.«
Diese Tempoverschärfung stellt die Bundeswehr durchaus vor Herausforderungen, war es doch schon fraglich, ob sie den bisherigen Zeitplan würde einhalten können. Jedenfalls tauchten im August 2022 weitere Details zum »Zielbild Einsatzkräfte Heer« auf, denen zufolge nicht nur die erste Division auf 2025 vorgezogen werden soll, sondern auch ein zweiter Großverband bereits 2027 Gewehr bei Fuß stehen soll. Noch kein Datum existiert für die Aufstellung der dritten Division, sie soll wohl aber auch spätestens 2030 kampfbereit sein.
Deutschland Führungsmacht
In gewisser Weise werden nun die vor Jahren bei der Münchner Sicherheitskonferenz artikulierten (militärischen) Führungsansprüche mit den entsprechenden Finanzen, Waffensystemen und Großverbänden unterfüttert. Konsequenz und Ziel der Übung wurden von Kanzler Olaf Scholz Ende Mai 2022 folgendermaßen beschrieben: »Deutschland wird in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der NATO verfügen.«
Dementsprechend forsch treten mittlerweile Spitzenpolitiker:innen von Scholz bis Baerbock auf und pochen auf eine deutsche Führungsrolle. Am 12.September 2022 hielt auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht eine Grundsatzrede: Sie sehe ein, dass es in der Bevölkerung angesichts der Geschichte eine »Skepsis« gegenüber (militärischen) Führungsansprüchen gebe, aber »das Deutschland, das diese Verbrechen begangen hat, das gibt es seit 80 Jahren nicht mehr«. Man sei ein »anderes Land«, habe ein »anderes Selbstvertrauen«, deshalb benötige man ein neues »Rollenverständnis«, was beinhalte, »größere Verantwortung, auch militärisch« zu übernehmen: »Deutschlands Größe, seine geografische Lage, seine Wirtschaftskraft, kurz, sein Gewicht, machen uns zu einer Führungsmacht, ob wir es wollen oder nicht. Auch im Militärischen.«
Aktuell hat dieser durch die Gelder des Sondervermögens befeuerte Militarisierungsschub allerdings noch ein Verfallsdatum – in fünf Jahren müssen die 100 Mrd. Euro für die Bundeswehr aufgebraucht sein. Für eine darüber hinausgehende Verstetigung des Sondervermögens müsste der offizielle Militärhaushalt dann um etliche Milliarden angehoben werden, wofür interessierte Kreise bereits heute werben.
Die wesentlichen Entscheidungen werden spätestens in einigen Jahren getroffen werden – es wird deshalb viel davon abhängen, ob es bis dahin gelingt, genug Widerstand gegen diesen Turbomilitarismus zu organisieren.
Der Autor ist Mitarbeiter der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen.
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