Die Irrfahrt des Rettungsschiffes und die französische Migrationspolitik
von Bernard Schmid
So vorteilhaft hatte sich die französische Regierung das vorgestellt: Sie würde in unterschiedliche, ja entgegengesetzte politische Richtungen hin gleichzeitig starke Signale aussenden und sich dadurch nach allen Seiten profilieren. Sie würde das unter Beteiligung von Neofaschisten gebildete Kabinett im Nachbarstaat Italien gleichzeitig vorführen, doch in gewisser Weise auch entlasten.
Die neue italienische Premierministerin Giorgia Meloni hat, ähnlich wie bereits die 2018/19 amtierende Vorgängerregierung mit Matteo Salvini als Innenminister, den bei der Seenotrettung im Mittelmeer für Geflüchtete aktiven NGO den Kampf angesagt und angekündigt, ihnen den Zugang zu italienischen Häfen weitgehend zu verschließen. Das wirtschaftsliberale Staatsoberhaupt Emmanuel Macron versucht sich gegenüber den Rechtsextremen im In- wie im europäischen Ausland als weltoffene Alternative darzustellen und übte verbale Kritik an diesem Verhalten. Gleichzeitig wollte er es mit Meloni von Anfang an auch nicht zum politischen Bruch kommen lassen, vielmehr war Macron noch am Abend ihrer Amtseinführung am 23.Oktober der erste ausländische Staatsgast, der in Rom mit ihr zusammentraf. Er hielt sich zu dem Zeitpunkt zu einer Ukrainekonferenz bei der katholischen Gemeinschaft von Sant’Egidio in der italienischen Hauptstadt auf. Nähere Inhalte der Unterredung Macrons und Melonis drangen kaum nach außen, beide kündigten jedoch eine Fortsetzung der zwischenstaatlichen Kooperation an.
Einige Tage später übte Macron dann verbale Kritik an Meloni und ihrer Regierung, als das Rettungsschiff Ocean Viking mit 234 geretteten Geflüchteten an Bord tagelang auf dem Mittelmeer herumirrte und ihm die Einfahrt in italienische Häfen verweigerte wurde. Macrons Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete Italiens Haltung als „verantwortungslos“. Italien verwies hingegen darauf, andere EU-Staaten – vor allem Frankreich und Deutschland – hätten Zusagen über die Übernahme von insgesamt 8000 im Stiefelstaat angelandeten Migranten abgegeben, hätten aber nur 117 aufgenommen.
Nachdem die von korsischen Autonomisten geführte Inselregierung in Ajaccio erklärt hatte, das Schiff dürfe in Korsika einlaufen, gab die Pariser Zentralregierung ihre ursprünglich ablehnende Haltung gegenüber einer Landung der Ocean Viking in Frankreich auf. Am 11. November – in Frankreich ein gesetzlicher Feiertag, die Medienberichterstattung wurde entsprechend aufmerksam verfolgt – durfte das Rettungsschiff Land anlaufen. Aber nicht in Marseille, dessen sozialdemokratisch-grüne Stadtregierung ihr Einverständnis erklärt hatte, sondern im streng überwachten Militärhafen von Toulon. Die Anlandung erfolgte unter Abschottung vor der Öffentlichkeit, auch wenn in einiger Entfernung Anhänger der rechtsextremen Partei von Eric Zemmour Reconquête! gegen „die Invasion“ demonstrierten. Zemmour war selbst angereist und wetterte, Frankreichs Politiker hätten „das französische Volk zu schützen, nicht irgendwelche Somalier oder Afghanen“. Auch die wahlpolitisch besser aufgestellte rechtsextreme Konkurrenzpartei Rassemblement national forderte via Pressemitteilungen, Twitter und Talkshows, Schiff und Insassen in libysche Häfen zurückzubringen.
Ab der Landung in Toulon bemühte sich die französische Regierung dann, Signale von Härte und Kontrolle auszustrahlen. Allen 234 Passagieren wurde die Einreise nach Frankreich formal untersagt. Stattdessen wurde eine „temporäre internationale Wartezone“ auf der zur Stadt Hyères gehörenden Halbinsel Gien eingerichtet, in einem zu der Jahreszeit leerstehenden Urlaubsressort. Einer juristischen Fiktion gehorchend, gilt diese vorübergehend als nicht zum französischen Staatsgebiet gehörig, sondern als extraterritoriale Zone. Dort können drei Wochen lang in einem Schnellverfahren Asylanträge darauf geprüft werden, ob sie „offensichtlich unbegründet“ seien oder aber zum formalen Eintritt auf französisches Staatsgebiet berechtigen, damit dort in einem späteren Normalverfahren die Asylberechtigung oder ihr Fehlen festgestellt werden kann.
Laut NGO- und Presseberichten fehlte es dazu allerdings vor Ort am absoluten Minimum an Ausstattung. Eine eigens vom französischen Asyl-Amt OFPRA entsandte Delegation führte die Gespräche in Zelten, in denen die notwendige Vertraulichkeit nicht möglich waren, da sie für Blicke offen und nicht schalldicht waren. Es fehlte an Übersetzerpersonal, so wurden mehr oder minder französisch beherrschende Landsleute von Geflüchteten innerhalb des Lagers für das Dolmetschen herangezogen, aber auch eine arabisch sprechende Putzfrau der Polizei. Toulon und seine Umgebung sind schlicht für solche Erfordernisse nicht vorbereitet und ausgerüstet, die Metropole Marseille dagegen schon.
Nach kurzer Zeit verlautbarte die französische Regierung öffentlich, bereits 44 Schiffspassagieren sei die Einreise nach Frankreich nach Schnellprüfung ihres Asylgrunds verweigert worden, diese würden umgehend zur Ausreise verpflichtet. Dadurch wollte sie zeigen, dass sie nach Humanität nun auch Härte demonstrieren könne, und die Kampagne der Rechtsextremen wegen „Komplizenschaft bei einer Invasion“ entkräften. Umgekehrt wurde 66 unter den Betreffenden beschieden, sie dürften ins Normalverfahren zur Prüfung ihrer Asylgründe und würden dazu formal in Frankreich aufgenommen.
Wegen ihrer zahlreichen handwerklichen Fehler scheiterten die Behörden jedoch alsbald auf ganzer Linie. Die Justiz hätte innerhalb von 48 Stunden überprüfen müssen, ob der Entzug des Rechts auf Fortbewegungsfreiheit und die Festsetzung in dem Wartelager rechtmäßig sei, da kein Freiheitsentzug außerhalb richterlicher Kontrolle möglich ist. In einem halben Tag sollte ein örtliches Gericht also über 123 Anträge der Verwaltung auf Fortdauer des Freiheitsentzugs entscheiden. Das Gericht erklärte sich dazu kurzerhand außerstande, zumal viele der Akten fehlerhaft waren und beispielsweise den Aufenthaltsort gar nicht erwähnten.
Nahezu alle 189 erwachsenen Insassen der Ocean Viking, wurden bis auf etwa zehn sowie ein Baby daraufhin am 18.11. auf einen Schlag per Justizentscheid aus dem Wartelager entlassen. Sie können sich nun formal auf französischem Boden niederlassen und ihre Asylgründe in den kommenden Monaten prüfen lassen. 44 unbegleitete Minderjährige waren bereits zuvor von der Gruppe abgetrennt und in Jugendheimen ohne Freiheitsbeschränkungen untergebracht worden; Freiheitsentzug wäre in ihren Fällen nicht möglich gewesen. 26 von ihnen waren binnen kurzer Zeit „verschwunden“, überwiegend Eritreer. Es wurde allerdings schnell bekannt, sie verfügten über Familienangehörigen in Schweden, Norwegen und Deutschland, zu denen sie mutmaßlich alle unterwegs seien.
Zwei vormalige Insassen der Ocean Viking sind unterdessen in das westafrikanische Mali abgeschoben worden (Stand: 23.11.)
Daraufhin brach die rechte Medien- und Meinungskampagne erst richtig los. Die Regierung habe endgültig ihren völligen „Kontrollverlust“ eingeräumt, kritisierte nicht nur die neofaschistische Parteichefin Marine Le Pen vom RN. Der konservative Spitzenpolitiker Eric Ciotti (LR) – Anwärter auf die Parteiführung bei der innerparteilichen Abstimmung Anfang Dezember – erklärte dazu am Montag Abend: „Frau Meloni war mutig, Herr Macron war feige und machtlos.“
In relativ breiten Kreisen wird die Episode als ein Fiasko und Anzeichen von vermeintlich außer Kontrolle geratenden Migrationsprozessen wahrgenommen. Anwälte- und Richtergewerkschaften wie das Syndicat de la magistrature (SM) sowie Linkspolitiker:innen weisen in den Medien daraufhin, die Justiz habe durch ihre Anordnungen auf Freilassung „nur ihre Arbeit in einem Rechtsstaat verrichtet“. Aus dem Regierungslager folgt der Hinweis, mutmaßlich müsse man die Fristen ausdehnen und Freiheitsbeschränkungen im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen erst später richterlicher Kontrolle unterwerfen.
In den kommenden Monaten will das Regierungslager einige Regeln ändern. Frankreich bereitet sich darauf vor, Anfang 2023 ein neues Ausländergesetz – das dreißigste seit 1980 – zu debattieren, das seit dem Hochsommer angekündigt wurde.
Vor dem Hintergrund diverser Affären und Skandale im Sommer dieses Jahres setzt die Regierung, oder jedenfalls ihr Innenminister Darmanin auf ein Gesetz, das „Sicherheitsängste aufgreifen“ und „Ausländerkriminalität“ bekämpfen soll. Das ist unter Umständen brandgefährlich, da das Regierungslager seit Juni nur noch über eine relative und keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung mehr verfügt. Da das Linksbündnis NUPES nicht mitziehen dürfte, kann eine Mehrheit rechnerisch nur durch Zustimmung mindestens der konservativen Les Républicains (LR) wenn nicht gleich des rechtsextremen Rassemblement national zustande kommen. Die Stimmen von LR würden rechnerisch genügen, stimmt jedoch der RN geschlossen gegen den Text, dann dürfte die konservative Partei je zur Hälfte auf Seiten der Regierung und des RN stehen. Deswegen dürfte auch eine Einbindung der Rechtsextremen für eine Mehrheitsfindung erforderlich sein.
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