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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2022

Selber anpacken – Enteignen statt Krise!
von Matthias Becker

Anfang Oktober trafen sich in Berlin drei Tage lang Aktive und Wissenschaftler zu einer »Vergesellschaftungskonferenz«. Auch »RWE & Co. enteignen« nahmen teil. Veranstaltet wurde die Konferenz vom ASTA der TU Berlin, der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Attac, Berlin 21, Fridays for Future, dem Institut Solidarische Moderne, dem Konzeptwerk Neue Ökonomie, Oxfam Deutschland, der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Gemeingut in BürgerInnenhand und dem Forschungsverbund »Strukturwandel des Eigentums«.

Das Ziel der Konferenz war es, die Sozialisierung als Krisenantwort zurück in die politische Debatte zu bringen. Vertreten waren Initiativen und Gewerkschafter:innen aus den Bereichen Krankenpflege und Krankenhäuser, Wohnen, Mobilität, Energie, digitale Infrastrukturen, außerdem aus dem Ausland Libère Bukobero aus Burundi und die indische Working People’s Charter.
»Von ›Deutsche Wohnen enteignen‹ lernen, heißt siegen lernen!« hieß es im Programm – optimistisch bis zweckoptimistisch. Sozialtheoretische Beiträge dominierten die Podien, aber am Rande konnten die Teilnehmer:innen ihre Erfahrungen austauschen und sich vernetzen.

»Wie lange protestieren wir jetzt schon für Klimagerechtigkeit?«, fragt eine Aktivistin in dem Youtube-Video. »Bei meinem ersten Klimastreik war ich noch in der Schule. Jetzt ist es 2022 – eine Pandemie, x Hitzesommer und hundert leere Versprechen später! Niemand setzt sich für mich und meine Zukunft ein, jede Partei hat mich enttäuscht.« Diese Erfahrung von Frustration und Desillusionierung kennen fast alle, die sich seit 2018 an der Klimabewegung beteiligt haben, ungewöhnlich ist die Folgerung: »Wir wollen selbst anpacken und eine klimagerechte Zukunft aufbauen – Enteignen statt Krise!«
Mit diesem Video warb die Initiative »RWE & Co. enteignen« für eine Demonstration Ende August in Köln, die sie zusammen mit Fridays for Future, Ende Gelände und Lützerath lebt! organisierte. Das Ziel der Initiative: Die großen Energiekonzerne sollen in öffentliches Eigentum überführt und demokratisch gelenkt werden: RWE enteignen und dann vergesellschaften, um ökologische und gesellschaftliche Ziele zu verwirklichen.
Denn beides steht gleichberechtigt nebeneinander. Die Gruppe fordert, Produktion und Verteilung von Strom gerecht zu organisieren – z.B. Stromsperren und Energiearmut abzuschaffen –, gleichzeitig sollen die fossilen Brennstoffe im Boden bleiben und Energie ausschließlich ökologisch nachhaltig gewonnen werden. »Ökologische und sozial gerechte Energieversorgung geht nur mit Vergesellschaftung«, sagt Ilva Meyer von »RWE & Co. enteignen«. Um Klimagerechtigkeit zu erreichen, müsse das fossile Kapital entmachtet und enteignet werden. Die Klimagerechtigkeitsbewegung entdeckt die Eigentumsfrage.
Ilva Meier findet diese Entwicklung ganz folgerichtig. »Erst haben wir an die Politik appelliert«, erklärt sie. »Dann sind wir einen Schritt weiter gegangen und haben auf zivilen Ungehorsam gesetzt. Jetzt müssen wir noch einen Schritt weiter gehen, an die Wurzel des Problems!« Rückblickend findet sie, die langen Debatten in der Bewegung um einen nachhaltigen, ethisch vertretbaren Konsum seien unproduktiv gewesen. »Eine andere Welt ist möglich. Wir können sie ändern, indem wir als Gesellschaft für die Bedürfnisse von allen produzieren statt für die Profite von Konzernen.«
Die Wurzeln von »RWE & Co. enteignen« liegen in verschiedenen Gruppen, die rund um die Proteste im Rheinischen Braunkohlerevier entstanden sind. Inspiriert wurden sie von dem Volksentscheid »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« in Berlin. Knapp 60 Prozent der Wahlberechtigten stimmten im September 2021 für die Enteignung großer Wohnungskonzerne – eine klare Mehrheit, allerdings macht die Berliner Landesregierung (SPD-Grüne-LINKE) keine Anstalten, das Ergebnis des Volksentscheids umzusetzen. An der Demonstration »Enteignen statt Krise« in Köln im August 2022, die von »RWE & Co. enteignen« mit organisiert wurde, nahmen über tausend Menschen teil. Im Anschluss gab es Workshops, um die Chancen der Vergesellschaftung für die Klimagerechtigkeitsbewegung zu besprechen und Konzepte für eine demokratisierte Energieproduktion zu diskutieren.
Einen fertigen Plan für die zukünftige Aufgabenteilung und Mitbestimmung von Nutzer:innen und Beschäftigten hat die Initiative nicht. Denkbar seien »Kommunalisierungen mit großen Mitgestaltungsmöglichkeiten für die gesamte lokale oder regionale Gesellschaft, beispielsweise Anstalten des öffentlichen Rechts, in deren Gremien auch Vertreter:innen der Bürgerschaft sitzen«. Eine andere Option wären Genossenschaften. Umstritten in der Gruppe ist die Frage von Entschädigungen: Müssen die RWE-Anteilseigner bei einer Enteignung ausbezahlt werden? »Es klingt schon ein bisschen wie ein schlechter Witz«, sagt Ilva Meyer, »dieser Konzern hat planetare Lebensgrundlagen zerstört und damit Millionen verdient!«
Die Initiative hat sich das Ziel gesetzt, im nächsten Jahr einen Volksentscheid in Nordrhein-Westfalen auf den Weg zu bringen. In diesem Herbst wollen sich die Aktivst:innen an den Protesten gegen steigende Energiepreise beteiligen. »Stromproduktion muss sozial und ökologisch sein. Wenn wir es nicht schaffen, diesen Winter eine faire und bezahlbare Energieversorgung zu erstreiten, drohen auch erkämpfte Fortschritte in der Klimafrage wieder zurückgeworfen zu werden.«

Die Webseite der Initiative: https://rwe-enteignen.de

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