Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2022

›Die russischen Behörden haben sich selbst in die Enge getrieben‹
dokumentiert*

Putins Teilmobilisierung für den Ukrainekrieg hat eine heftige Fluchtwelle ausgelöst. In den ersten Tagen sollen 200000 Menschen nach Georgien und in die Türkei geflohen sein. Gleichzeitig bleibt die Antikriegsbewegung unterdrückt. Die Flüchtenden kommen zumeist aus gebildeteren städtischen Milieus. Das Gros der in der Ukraine kämpfenden russischen Soldaten kommt hingegen aus entlegenen Regionen des Landes wie Dagestan oder Burjatien. Sie stellen auch das Gros der geschätzt 15000 toten russischen Soldaten.

Das linke Online-Portal Posle hat Stimmen aus dem weiteren Bekanntenkreis (Freunde von Freunden) und auch aus der Antikriegsbewegung gesammelt. Sie wurden alle Ende September per Zoom aufgenommen. Wir bringen eine Auswahl.

Swetlana, Innenarchitektin,
57 Jahre alt:

Ich habe eine sehr ablehnende Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine. Ich habe meine Position immer offen dargelegt. Im Frühjahr habe ich an Antikriegskundgebungen teilgenommen. Ich bin der Meinung, dass die Ukraine ein unabhängiger Staat ist und dass es keine Rechtfertigung für eine Aggression gegen sie gibt. Seit Beginn des Krieges habe ich mich nicht vor offenen Gesprächen gescheut, im Gegenteil, ich halte es für unerlässlich, sie zu führen. Ich habe zum Beispiel den örtlichen Abgeordnetenrat besucht. Im März unterzeichneten sieben der zehn Mitglieder einen Appell, in dem sie das Vorgehen des Präsidenten unterstützten. Ich habe sie gefragt: »Wer von den Abgeordneten wird sich freiwillig für den Krieg melden?« Und als sie mir sagten, dass keiner von ihnen das tun würde, habe ich in allen Nachbarschaftsgesprächen darüber gesprochen.
Ich stamme aus einer Militärfamilie; meine Mutter arbeitete in einer Schießpulverfabrik, mein Vater im militärischen Bauwesen. Ich habe in Militärstädten gelebt. Mein Bruder war auch Ingenieur bei der Armee. Danach war er unfähig, als Zivilist zu arbeiten, und ich habe die Tragödie dieses Mannes miterlebt. Nachdem er so viele Jahre lang Befehlen gehorcht hatte, konnte er nicht mehr Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen.
Ich bin gegen den neuen Kreislauf der Militarisierung, in den wir jetzt eintreten, weil es schwer sein wird, uns aus ihm wieder herauszuwinden. Für diese militarisierten Männer wird es sehr schwer sein, in ein normales Leben zurückzukehren, in dem sie die Initiative ergreifen und Verantwortung übernehmen müssen. Wir werden wieder eine ganze Generation verlieren.
Die Ankündigung der Mobilisierung hat meine Familie direkt betroffen. Ich habe drei Kinder. Mein mittlerer Sohn diente in der Armee im Raketenkorps. Am ersten Morgen nach der Ankündigung klingelte jemand an unserer Tür und sagte mir, dass sie Einberufungspapiere für ihn mitgebracht hätten. Ich habe die Tür nicht geöffnet. Mein Sohn ist zur Zeit nicht zu Hause, aber im Lande. Meine ältere Tochter kam mit ihrem Mann aus Georgien zurück. Sie erfuhren von der Mobilisierung, als sie zehn Kilometer von der russischen Grenze entfernt waren, also kehrten sie um und fuhren nach Tiflis.
Mein jüngster Sohn ist 17 Jahre alt; in sechs Monaten wird er wehrpflichtig, und das macht mir große Sorgen. Ich habe meine Kinder so erzogen, dass sie verstanden haben, dass man nicht einfach Menschen töten kann. Wir haben immer geglaubt, dass es notwendig ist, unsere Grenzen zu schützen, aber andere Länder anzugreifen ist inakzeptabel.
Seit der Ankündigung der Mobilisierung habe ich nicht bemerkt, dass die Menschen ihre Ansichten über den Krieg geändert hätten. Diejenigen, die unter der Dusche der Fernsehpropaganda stehen, halten weiterhin an ihren Positionen fest. Ich habe mich mit einer Nachbarin unterhalten, und sie sagte, dass zwei ihrer Jungen Einberufungspapiere erhalten haben und zum Einberufungsamt gegangen sind, ohne zu versuchen, sich der Einberufung zu entziehen. Um ehrlich zu sein, sehe ich keinen Fortschritt in ihren Köpfen. Ja, ich habe gelesen, dass die Leute weniger fernsehen, aber wie um alles in der Welt können sie diese Aggression die ganze Zeit mit anhören? Ich weiß es nicht…

Dimitri, Jurist, 32 Jahre alt:
Ich hatte von Anfang an negative Gefühle gegenüber dem Krieg und war mir bewusst, dass er letztendlich zur Mobilisierung führen würde. Ich habe mich nicht an den Protesten beteiligt, aber ich habe mit meinen Kollegen, Eltern und Bekannten gesprochen. Ich habe meine Haltung vor niemandem verheimlicht. Es war schwer, mit der älteren Generation zu sprechen, aber jetzt bemerken auch sie die Diskrepanz zwischen den Berichten im Fernsehen und der Realität.
Ich habe nicht in der Armee gedient, aber neben meinem Studium eine militärische Ausbildung absolviert. Ich bin Leutnant der Reserve, unterliege also der Wehrpflicht. Bereits am 21.September kam ich zu dem Schluss, dass die Mobilisierung mich betreffen könnte. Ich fand und buchte ein Ticket in die Türkei, und sobald ich das Wort »Mobilisierung« hörte, drückte ich auf den Knopf und bezahlte es. Ich habe nur sehr wenig für das Ticket ausgegeben und es größtenteils mit den Flugmeilen bezahlt, die ich gesammelt hatte. Es fällt schwer, diese Geschichte zu glauben, denn heute kosten Tickets ein Vermögen, wenn sie überhaupt erhältlich sind.
Die Abreise war nicht einfach. Ich musste eine Menge opfern. Ich habe ein Haus, eine Frau, ein Baby und einen Job, der meine Anwesenheit in Russland erfordert. Aber als ich diese Entscheidung traf, ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf: »Du musst am Leben bleiben.« Meine Frau unterstützte mich und ermutigte mich, zu gehen. Ich weiß nicht, wie lange ich meine Familie nicht sehen werden kann.
Ich bin Jurist, aber ich glaube nicht, dass man sich mit juristischen Mitteln gegen eine Mobilisierung wehren kann. In Russland steht alles, was politische Fragen betrifft, außerhalb des Gesetzes. Natürlich versuchen die Behörden, den Anschein von Legitimität zu erwecken. Aber in unserem Staat geht es schon lange nicht mehr rechtsstaatlich zu.
Die russischen Behörden haben sich selbst in die Enge getrieben, und der einzige Ausweg für sie ist, diesen Krieg irgendwie zu gewinnen. Aber selbst wenn sie ihn gewinnen können, glaube ich nicht, dass Russland ein lebenswerter Ort sein wird.
Die Ankündigung der Mobilisierung hat viele Kriegsbefürworter, darunter auch meine Verwandten, ernüchtert. Die Angst um ihre Angehörigen wurde in dieser Situation zum wichtigsten Gefühl, und meine Eltern waren erleichtert, als sie erfuhren, dass ich das Land verlassen hatte.
Die Mobilisierung und der Aufruf zum Krieg haben nichts mit Patriotismus zu tun. Dahinter steht kein nationaler Gedanke. Niemand braucht diesen Krieg. Patriotismus bedeutet, sich für das Wohl und die Freiheit der Menschen in ihrem Land einzusetzen. Ich sehe, dass viele gute Menschen gezwungen sind, Russland zu verlassen, und ich hoffe, dass sie zurückkehren können, wenn sich die Situation ändert.

*Quelle: https://posle.media/language/en/partial-mobilization-six-stories-part-1/

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