Aus dem Protest gegen eine Dienstverpflichtung erwächst ein erster Flächenbrand
von Bernard Schmid
Anders als etwa in Teilen Ostdeutschlands führen derzeit in Frankreich keineswegs rechtsextreme oder russlandfreundliche Kräfte die Bewegung an, wenn es darum geht, gegen Kaufkraftverlust durch steigende Energie- und andere Verbraucherpreise zu protestieren. Im Gegenteil. Seit Wochen suchen die Gewerkschaften das Kräftemessen mit der Kapitalseite, um Lohnerhöhungen durchzusetzen und die Abwälzung der Krisenlasten auf die Lohnabhängigen mindestens abzumildern.
An der Spitze standen dabei die Beschäftigten der Raffinerien, die am 27.September dieses Jahres in den Streik traten. In diesem Sektor lagen beste Voraussetzungen vor. Denn einerseits hängt von den insgesamt drei- bis viertausend dort abhängig Beschäftigten unter anderem die Benzin-, Diesel- und Ölversorgung ab, weshalb ihr Arbeitskampf unübersehbare Auswirkungen etwa auf das Tankstellennetz hat. Zum anderen ist die Legitimität ihrer Lohnforderungen breit akzeptiert, hat doch der französischen Mineralölkonzern TotalEnergies in den Jahren 2021 und 2022 Rekordgewinne eingefahren und ist objektiv ein Krisengewinnler des Ukrainekriegs. Allein im ersten Halbjahr 2022 verzeichnete er 18 Mrd. Euro Gewinn.
Die beiden Gewerkschaftsverbände CGT – hinter der rechtssozialdemokratisch geführten CFDT die zweitstärkste Gewerkschaftsorganisation – und Force Ouvrière, der drittstärkste Dachverband, führten den Streik an. Beide fordern im Kern Lohnerhöhungen um 10 Prozent, was gut drei Prozentpunkte über der derzeitigen jährlichen Inflationsrate liegt. Hinzu kommen »qualitative« Forderungen nach Personaleinstellung, Investitionen und Arbeitssicherheit. Um die Verhandlungen zu erleichtern, akzeptierte die CGT allerdings schon früh, vorläufig ausschließlich über Lohnforderungen zu verhandeln.
Am 14.Oktober akzeptierten die CFDT und die Gewerkschaft der höheren und leitenden Angestellten CFE-CGC ein Abkommen mit TotalEnergies. Laut Medienberichten sieht es eine Lohnerhöhung für 2023 in Höhe von 7 Prozent, also der Teuerungsrate, vor. In Wirklichkeit werden den Beschäftigten jedoch nur 5 Prozent allgemeiner Erhöhung gewährt. Die übrigen 2 Prozent sind eine »individuelle« Erhöhung, die je nach Leistungsbeurteilung ausgezahlt oder auch verweigert werden kann.
Dank der Unterstützung unter Ingenieuren und Verwaltungsangestellten kommen CFDT und CFE-CGC insgesamt im Konzern auf eine Stimmenmehrheit unter den Beschäftigten. In den Raffinerien hingegen ist die CGT ungleich stärker verankert. Dort trotz des Abschlusses weiter zu streiken, ist in Frankreich legal, da hier anders als in Deutschland keine so genannte »Friedenspflicht« besteht.
Im Laufe des Oktober bröckelte die Streikbeteiligung, zu Anfang der letzten Oktoberwoche waren noch zwei Standorte von sieben im Streik, im normannischen Gonfreville und in Feyzin im Umland von Lyon.
Den Streik politisieren
Die CGT reagierte auf das von Regierungsseite gegen den Streik eingesetzte Instrument der réquisition, also der strafbewehrten Dienstverpflichtung (bei Zuwiderhandeln drohen bis zu sechs Monate Haft; die Verwaltungsgerichte in Rouen und Lyon haben den Einsatz gebilligt) mit dem Versuch, den Lohnkampf schnell auf andere Branchen auszuweiten. Für den 18.Oktober rief sie zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen in allen Branchen, wo dies möglich sei, auf. Real betroffen waren vor allem die Verkehrsbetriebe, wo allerdings eine Fortführung des Arbeitskampfs über den Tag hinaus scheiterte, und die Berufsschulen.
Die Wirkung des Streiktags verpuffte jedoch weitgehend. Gleichzeitig vermerkten mehrere Medien, vom Wochenmagazin Marianne bis zur Regionalzeitung Ouest France, die Eisenbahnbediensteten etwa würden ihre Kampfkraft vorläufig noch zurückhalten, weil sie sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung um die von der Regierung geplante Renten»reform« vorbereiteten. Da in Frankreich Streikende keine Lohnfortzahlung bekommen, sondern ihre Beteiligung an Ausständen in der Regel aus eigener Tasche bezahlen, waren viele Beschäftigte der Auffassung, die entscheidende Auseinandersetzung stehe erst noch bevor und man müsse die finanziellen Kräfte für diese aufsparen.
Der Inhalt der geplanten Rentenreform ist bislang noch unbekannt. Das gesetzliche Mindestalter für den Renteneintritt – derzeit 62 Jahre; für eine volle Pension sind bis zu 42,5 Beitragsjahre erforderlich – könnte laut Regierungssprecher Olivier Véran auf 65 angehoben werden, andere im Regierungslager fordern 67.
Die CGT hat allerdings für den 27.Oktober und den 10.November zu erneuten Streik- und Aktionstagen aufgerufen. Der fortgesetzte Arbeitskampf soll vor allem dazu beitragen, die Lohnfrage zu politisieren und nicht auf isolierte, vom allgemeinen Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit entkoppelte Verhandlungen mit jeweils einzelnen Unternehmen zu beschränken.
La France Insoumise
Am 16.Oktober folgten in Paris zudem etwa 60000 Menschen dem Aufruf linker Parteien zur Demonstration »gegen das teure Leben und gegen klimapolitische Untätigkeit«. Die Initiative dazu hatte einige Wochen zuvor die Wahlplattform La France insoumise (LFI) ergriffen, die linkssozialdemokratische bis linksnationalistische Kräfte umfasst. Der Protestzug war also keine direkte Reaktion auf die jüngsten Arbeitskämpfe, hing aber ebenfalls mit den Folgen der Teuerung für die Lohnabhängigen zusammen. Die Gewerkschaften weigerten sich, als Mitveranstalter aufzutreten – seit 2017 gibt es Auseinandersetzungen zwischen LFI und den Gewerkschaftsapparaten um den jeweiligen Einfluss. Viele Gewerkschaftsmitglieder, vor allem aus den Reihen der CGT, beteiligten sich jedoch an der Demonstration, ebenso Studierendengruppen und Umweltinitiativen.
Die Rechte
Auch eine »andere« Opposition, die ganz andere Absichten hegt, wartet auf ihre Stunde: Während viele Französinnen und Franzosen derzeit laut bürgerlichen Umfrageinstituten meinen, die linkspopulistische LFI trete zu polternd auf, konnte die extreme Rechte mit einem relativ smarten Auftreten in ihrer Parlamentsarbeit seit den Wahlen vom Juni dieses Jahres an Ansehen gewinnen. Angeblich honoriert die öffentliche Meinung ihre Oppositionsarbeit besser. Kurz gesagt, so muss man die Umfragen wohl lesen (es kommt ja immer auf die Fragestellung an!) soll dies heißen: Scheitert der soziale Protest, bleibt immer noch der gemütliche Faschismus als Alternative.
Übrigens wurde in Italien am 23.Oktober die erste faschistische Premierministerin seit 1945 vereidigt, Giorgia Meloni. Als erstes Staatsoberhaupt traf sie Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron, er weilte wegen Gesprächen über Russland und Ukraine in Rom; es soll eine anhaltende Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten vereinbart worden sein. Presse war zu dem Gespräch nicht zugelassen. Dies zum Thema »Liberaler Schutzschild gegen den (modernisierten) Faschismus«.
Unterdessen griffen gewaltbereite Stiefelfaschisten am Abend des 16.Oktober in Lyon einen Streikposten von Reinigungsbeschäftigten an; mutmaßlich vor allem deshalb, weil die betreffenden Beschäftigten fast ausschließlich ausländischer Nationalität sind. Den Streikposten hielt die kleine, doch traditionsreiche und im Reinigungsgewerbe relativ gut verankerte anarchosyndikalistische CNT, bzw. eines ihrer Spaltprodukte, die ziemlich aktive CNT-Solidarité ouvrière. Als Reaktion auf die Attacke veröffentlichten mehrere Gewerkschaftsverbände – der Bezirksverband Lyon der CGT, Union syndicale Solidaires, die Bildungsgewerkschaft FSU, CNT-Solidarité ouvrière und eine andere CNT (rue Vignolles) sowie die Studierendengewerkschaft UNEF – am darauffolgenden Tag eine gemeinsame Solidaritätserklärung.
Entlastungsangriff gegen Ausländer
Die weiteren Aussichten dürften in den kommenden Wochen und Monaten entscheidend davon abhängen, wann und mit welchen genauen Inhalten das Regierungslager sein Vorhaben für die Rentenreform verkündet. Das Lager um Macron, das seit Juni dieses Jahres nur noch über eine relative und nicht länger eine absolute Mehrheit im Parlament verfügt, will diese regressive »Reform« mit den Stimmen der konservativen Oppositionspartei Les Républicains durchboxen. (LR ist ungefähr mit dem Merz-Flügel der deutschen CDU zu vergleichen, doch mit einem erstarkenden rechtsextremen Flügel unter Eric Ciotti.)
Die rechtsextreme Oppositionspartei Rassemblement National (RN) dürfte die Gelegenheit hingegen zu einer Profilierung mit sozialer Demagogie nutzen, obwohl die Partei von Marine Le Pen im zurückliegenden Wahlkampf ihre vormalige Forderung nach einer Rückkehr zum Mindestrenteneintrittsalter von 60 Jahren, das vor 2011 galt, explizit aufgegeben hat. LFI, führt die »60« weiterhin an zentraler Stelle in ihrem Programm.
Um davon abzulenken hat das Regierungslager unterdessen angekündigt, ab Januar 2023 einen Entwurf für ein neues »Ausländergesetz« vorlegen und debattieren zu wollen. Dessen Konturen sind bislang nur in groben Zügen bekannt, fallen jedoch reichlich repressiv aus. Regierungslager wie Rechte dürften versuchen, die damit verbundenen Themen hochzuspielen und den sozialen Protest damit zu kontern.
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