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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2022

Tarifpolitik in Krieg und Krise
von J.H. Wassermann

Wieder weitgehend geräuschlos, diesmal aber mit erheblicher Beachtung in den Medien, hat die IGBCE einen Tarifabschluss für die 580000 Beschäftigten der Chemischen Industrie getätigt. Bei einer Laufzeit von formal 20 Monaten bis zum 30.Juni 2024 werden die Tariftabellen zum 1.Januar 2023 und 2024 jeweils um 3,25 Prozent erhöht. Außerdem gibt es spätestens Ende Januar 2023 und 2024 jeweils 1500 Euro netto Einmalzahlung – »tarifliches Inflationsgeld« genannt.

Die Bedeutung dieses Abschlusses liegt vor allem in ihrem Vorbildcharakter für die gerade laufende Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie mit 2,8 Millionen Beschäftigten sowie der Runde im öffentlichen Dienst Anfang nächsten Jahres.
IGBCE-Vorsitzender Vassiliadis rechtfertigte den Abschluss mit ausdrücklichem Bezug zur »Konzertierten Aktion« von Bundeskanzler Scholz. Die von der Regierung (besser: der steuerzahlenden Mehrheit der Bevölkerung) subventionierte Einmalzahlung von 3000 Euro bringt mehr Netto ins Portemonnaie »der Menschen in unserem Land«. Dass aber bei der insgesamt langen Laufzeit die geringen Tabellensteigerungen weit unter der Produktivitätssteigerung liegen, macht die Arbeitskraft in der chemischen Industrie billiger.
Die einschlägigen unternehmerfreundlichen Medien feiern den Abschluss für die konfliktfreie Abwicklung und das »Augenmaß«, das die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie nicht beeinträchtigt. Die Angst vor Streiks – in der Metallindustrie, die IGBCE wäre vermutlich gar nicht streikfähig – ist angesichts dieser »konstruktiven Lösung« kleiner geworden. Es wird nun erwartet, dass Unternehmer und Gewerkschaft IG Metall sich auf etwas ähnliches einigen.
Als im April 2022 die IGBCE wegen der »unkalkulierbaren, internationalen Entwicklungen« (sprich: weltweite Inflation, Rohstoffknappheit und –spekulation und Ukrainekrieg) ihre anstehende Tarifrunde mit einem »Brückenabschluss« von sieben Monaten und 1400 Euro Einmalzahlung in den Herbst verschob, fragten wir: Brücke ins Nichts?
Jetzt wissen wir: Es war eine Brücke ins Nichts, ein Weg in den Reallohnverlust, ein Weg zur Verbilligung der Arbeitskraft, ein weiterer Schritt weg von einer selbständigen Vertretung der Interessen der arbeitenden Klasse hin zum Kuschelkurs mit Unternehmen und Regierung in der »Konzertierten Aktion«. Das Schlimmste aber ist: Die Chance, mit der IG Metall zusammen (und vielleicht auch mit Ver.di) den Lebensstandard von Millionen Beschäftigten zu verteidigen, wurde nicht genutzt.

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