Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 11/2022

An den Rand notiert
von Rolf Euler

Anscheinend haben »wir« keine Zeit, schon gar nicht zu verschwenden, wenn »wir« auf die gegenwärtigen Krisenhäufungen reagieren wollen. Krieg und Inflation, Gasmangel und Pandemie, Reparaturanfälligkeit und Einsamkeit, Armut und Flucht – was soll man tun? Als politischer Mensch denkt man, es sollte zu jedem Problem eine Lösung, oder wenigstens einen Schritt dahin geben. Also nicht nur beim persönlichen Verhalten, sondern auch bei politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen.

Wissenschaftler:innen schreiben sich seit Jahrzehnten die Finger wund mit den Ergebnissen der Umweltforschung und den eingetretenen Prognosen der Klimaentwicklung. Linke Autoren schreiben sich die Finger wund mit Büchern und Artikeln über Alternativen. Anscheinend ist rational alles klar, was entschieden und getan werden muss. Anscheinend – aber die Irrationalität nimmt zu, die Reaktionen von Menschen und Regierungen werden emotional in kontraproduktive Richtungen gelenkt.
Was macht »die Linke«? Was machen »wir«?
In seinen »21 Lektionen für das 21.Jahrhundert« schreibt der Autor Yuval Noah Harari: »Nicht nur die Rationalität, auch die Individualität ist ein Mythos … Was dem Homo sapiens einen Vorsprung gegenüber allen Tieren verschaffte und uns zu Herren des Planeten machte, war nicht unsere individuelle Rationalität, sondern unsere beispiellose Fähigkeit, in großen Gruppen gemeinsam zu denken.«
Und weiter: »Die meisten unserer Ansichten sind durch gemeinschaftliches Gruppendenken und nicht durch individuelle Rationalität geprägt … Bombardiert man die Menschen mit Fakten und macht damit ihr individuelles Nichtwissen sichtbar, so könnte dieser Schuss nach hinten losgehen. Die meisten Menschen mögen nicht zu viele Fakten, und sie mögen es mit Sicherheit nicht, sich dumm zu fühlen.«
Das sind bedenkenswerte Ansichten. Was schlägt Harari vor?
»Wenn man sich eingehend mit einem Thema befassen will, braucht man viel Zeit, und vor allem braucht man das Privileg, Zeit verschwenden zu können. Man muss mit unproduktiven Wegen experimentieren, Sackgassen erkunden, Raum für Zweifel und Langeweile schaffen und zulassen, dass kleine Samen der Erkenntnis nur langsam gedeihen und blühen … Wenn Sie wirklich Wahrheit wollen, müssen Sie dem schwarzen Loch der Macht entkommen und sich selbst gestatten, jede Menge Zeit zu verschwenden und an der Peripherie mal dahin, mal dorthin zu schweifen. Revolutionäre Erkenntnis schafft es nur selten in die Mitte, denn die Mitte besteht aus bereits existierendem Wissen. Die Hüter der alten Ordnung bestimmen üblicherweise, wer in die Zentren der Macht gelangt, und sie sortieren in der Regel diejenigen aus, die irritierende, unkonventionelle Ideen im Gepäck haben.«

Ist das ein Rat für »privilegierte« (Polit-)Rentner:innen? Oder doch für einen kleinen Verein, dessen Ziel »solidarische Perspektiven« sind? »Zeit verschwenden«, gerade wenn es anscheinend schneller Lösungen bedarf.

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