Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2022

Gemeinsam Kämpfen heißt, die Auseinandersetzung untereinander aufrecht erhalten
von Imma Harms

Ein Beitrag zur Kontroverse zwischen Christian Frings‘ Vorwort zum Buch „Diversität der Ausbeutung“, nachgedruckt in der Sozonline 10/22 und Klaus Viehmanns Widerspruch dazu.

Kritik am essentialistischen Rassismus-Begriff

Vielleicht ist es eine deutsche Eigenart, vielleicht eine des abendländisch aufgeklärten Denkens, vielleicht aber auch eine anthropologische Konstante: der Hang zum Ordnen und Hierarchisieren, wobei sich beides gegenseitig bedingt und ermöglicht. Auch in unseren Beziehungen hierarchisieren wir immer wieder, auch wenn wir das nicht gut finden und selbst darunter leiden. Etwas (jemand) ist wichtiger, bedeutender, interessanter als etwas (jemand) anderes.

Nehmen wir den Jemand: Eine Person ist bedeutender, weil sie mir den Zugang zu etwas ermöglicht, was ich ersehne oder brauche. Eine Person ist bedeutender, weil sie von anderen als bedeutender angesehen wird und ich mich in diese Gruppe der anderen einreihen möchte, an ihren (eingebildeten) Vorteilen teilhaben möchte. Eine Person ist bedeutender, weil sie anscheinend etwas weiß oder kann, das mir selbst auch sehr weiterhelfen würde. Eine Person ist bedeutender, weil sie mir in irgendeiner Weise Macht zu haben scheint.

Für mich ist das eine sehr wichtige Facette von Machtbildung und -ausübung: Macht wird möglicherweise weniger oft aktiv ausgeübt als verliehen. Das sage ich für die „kleinen“, alltäglichen Verhältnisse, ohne damit bestreiten zu wollen, dass Macht im Großen (wie letztlich natürlich auch im Kleinen) sowie die darauf fußenden Herrschaftsverhältnisse über Gewalt bzw. die Angst vor Gewalt ausgeübt und aufrecht erhalten wird. Aber auch hier spielt die Zuschreibung von Macht eine große Rolle. Und ob die Angst vor der Gewalt tatsächlich berechtigt ist, weiß ich erst, wenn ich versucht habe, gegen die sie ausübende Macht aufzubegehren.

Aber es geht mir an dieser Stelle gar nicht so sehr um die Konstruktion von Macht als um die Herausbildung von moralischen Normen, also letztlich um Autorität. An wem orientiert man sich? Wessen Urteil trifft besonders hart? Es ist klar, dass wir (die undogmatischen Linken) das nicht wollen; wir wollen uns an den eigenen Erkenntnissen und den eigenen Erfahrungen orientieren und darüber zusammenfinden, also uns vergesellschaften.

Aber auch in „unseren“ Kreisen ist der Sog der Mehrheitsmeinung und das Bedürfnis, Teil des jeweils angesagten „Wir“ zu sein, sehr stark. Das führt mitunter zu eruptiven Umorientierungen und Rangordnungs-Veränderungen, die aber keine Stabilität haben, weil sie nicht auf Überzeugungen aus eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen beruhen, sondern im Kern Anpassungsprozesse sind. Ich will das an meinen Erfahrungen aus den 80er und 90er Jahren illustrieren.

Im Vorbereitungsplenum zur Kampagne gegen den IWF/Weltbank-Kongress 1988 in Westberlin kamen viele der damaligen autonomen/antiimperalistischen, der internationalistischen, aber auch trotzkistischen Kräfte der Stadt zusammen. Es war das übliche Szenario: die Männer erklärten, lieferten sich teils erbitterte Theorie-Gefechte; Frauen fragten nach, machten Einwände, übernahmen Positionen. Wir fühlten uns wie Schülerinnen, die langsam in die Terminologie reinwuchsen, ambitionierte Fragen stellten und denen dann die Zusammenhänge erklärt wurden. Das „Wir“ gab es dabei erstmal noch gar nicht so ausgeprägt. Aber wie es so geht: Nachdem die ersten Frauen angefangen hatten, sich zu beschweren, dass sie nicht zu Wort kommen, übergangen werden, dass ihnen diese ganze Art der Männer, das Terrain zu beherrschen, nicht passt, konnten wir Anderen unser individuelles Unbehagen auch kollektivieren.

Die Folge war eine kleine Revolte. Wir Frauen zogen nicht etwa aus dem „gemischten“ Plenum aus, wie das früher öfter der Fall war, sondern zerlegten es in ein Frauenplenum und ein Männerplenum. Danach wurde das Thema Patriarchat, Sexismus und Machismus ganz zentral. Wir bereiteten uns unter diesem Aspekt auf die IWF-Aktionstage vor, und auch die Männer beschäftigten sich theoretisch und verhaltens-praktisch mit dem Thema. Plötzlich war „antipatriarchal“, dem vorher nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ganz oben. Und egal, in welchem Zusammenhang geredet wurde, immer wurde die besondere Betroffenheit der Frauen und ihre bedeutende Rolle in den Kämpfen betont, und zwar nicht nur von uns Frauen, sondern besonders die Männer wurden nicht müde, unter Beweis zu stellen, dass sie die Lektion gelernt hatten.

So viel plötzliche Einsicht machte nicht nur Freude: Auf der einen Seite mussten wir zwar nicht mehr um Platz für unsere Themen kämpfen, und in den gemischten Versammlungen wurde genau darauf geachtet, dass Frauen ausreichend zu Wort kamen. Gebetsmühlenhaft wurden feministische Theorien und namhafte Autorinnen zitiert. Tatsächlich hatte sich aber an der Art, wie miteinander geredet wurde, wenig geändert. Diskussionsbeiträgen von Frauen wurde nicht widersprochen, es wurde aber auch nicht an ihnen mitgearbeitet. Die Zuarbeit, die wir vorher durch kritisches Nachfragen und Weiterdenken der vorgetragenen Ansätze für die männlich dominierten Diskurse geleistet hatten, wurde uns nicht zuteil. Wir wurden entweder totgelobt oder respektvoll übergangen. (Manchmal wurde uns auch, wie früher die Klassenzusammensetzung, das Patriarchat erklärt!) Jedenfalls eine gemeinsame gleichberechtigte konstruktiv-kritische Weiterentwicklung fand nicht statt.

Auch hier waren wir nicht ganz unschuldig, weil in kontroversen Diskussionssituationen das Etikett „das ist sexistisch“ oder „patriarchal“ immer in bequemer Griffweite war. (Eilfertige Männer überholten uns dabei oft noch in ihrer Beurteilung.) Und so wurde teilweise auch durch das eigene Zutun eine kritische Weiterentwicklung antipatriarchaler Standpunkte behindert. Zu schön war es, endlich mal oben zu schwimmen und sich das Recht-haben zur Not erzwingen zu können. Genutzt hat das wenig, denn der Machismus hat sich danach einfach umorganisiert: Frauen wurde der eingeforderte Respekt entgegengebracht, das „Redeverhalten“ wurde genau observiert, Diskussionsbeiträge wurden quotiert. Aber es gab kein gemeinsames Arbeiten an einem antipatriarchalen Kampf-Ansatz. Das hätte das Wagnis bedeutet, sich über die Geschlechtergrenzen hinweg kritisch auseinanderzusetzen, und nicht aus einer Mischung aus Scheu und Arroganz sich zurückzuziehen und die antipatriarchale Auseinandersetzung den „Betroffenen“ zu überlassen. Und so waren die Bedingungen für eine Lösung der feministischen Kritik aus dem antipatriarchalen Kontext gelegt; so konnte sie individualisiert und vereinnahmt werden. Nun haben wir eine von Frau Bärbock stolz verkündete „feministische Außenpolitik“.

Zehn Jahre später hat sich das Auseinanderfallen in der Gender-Debatte wiederholt. Feministische Versuche, die gemeinsame antipatriarchale Ausrichtung der hetera-feministischen Kräfte und der LGBT zu retten, scheiterten an dem ultimativen Argument, identitärer Feminismus essentialisiere das Geschlecht. Na gut, wir Heteras haben den Mund gehalten und den Primat der LGBTI anerkannt; das war ein Fehler! Jetzt hat sich ein liberalisierter, im Sinne des antipatriarchalen Kampfes entzahnter Gender-Begriff durchgesetzt, wo sich auch die CDU, selbst die AFD damit schmücken kann, keinerlei Probleme mit LGBTiQ+ zu haben. Von den patriarchalen Strukturen, die weiter die Gesellschaft durchzieht und die Ausbeutung der einen Hälfte durch die andere Hälfte ermöglicht, ist dabei keine Rede mehr.

Nun passiert mit dem identitären Antirassismus wieder das gleiche. Genau genommen schon seit den 90er Jahren, also parallel zur Gender-Debatte. Während dem identitären Feminismus (natürlich nicht ohne Grund) zu Bedenken gegeben wurden, dass er die Konstruktion von Geschlecht essentialistisch festschreibt, wurde in den linken Debatten den von Rassismus Betroffenen der Primat der Betroffenheit eingeräumt, weil die nicht von Rassismus Betroffenen ja aufgrund ihrer Privilegien blind sind. Wir weißen Linken, wir weißen Frauen haben den Mund gehalten und zugelassen, dass die Betroffenheits-Schranke fällt und eine aus Selbstentmachtung und Scheu entstehende Sprachlosigkeit zwischen den „Privilegierten“ und den „Nicht-Privilegierten“ fällt.

Natürlich hätten wir schon in den 90er Jahren und erst recht in den letzten beiden Dekaden fragen müssen: Welchem Ausbeutungssystem dient denn der Rassismus; wie können die Kämpfe gegen rassistische Diskriminierung gegen ihre tatsächlichen Ursachen gerichtet werden? Wie kommen wir, also die durch Rassifizierung Gespaltenen, darin wieder zusammen?

Stattdessen bläht sich das Betroffenheits-Primat immer weiter auf, moralische Empörung auf beiden Seiten der Schranke würgt die Diskussionsansätze ab. Die Ausweitung des Rassismus-Begriffs auf alle, die in verschiedener Weise aufgrund äußerlicher Merkmale diskriminiert werden, und inzwischen jede Art von National-Chauvinismus, „Fremden“-Angst und -feindlichkeit bezeichnet, ist zwar nachvollziehbar, aber wenig hilfreich. Die einen Rassismen werden dadurch aufgedeckt, die anderen gleichzeitig tabuisiert. Denn natürlich herrscht unter den von Rassismen Betroffenen auch Rassismus! Selbstverständlich ebenfalls Sexismus oder klassenmäßige Diskriminierung. In der rassistischen Konfrontation wie in den anderen Unterdrückungsbeziehungen treffen nicht Identitäten sondern Haltungen aufeinander.

Der identitäre Antirassismus verstrickt sich dabei in einer Paradoxie: Das Verständnis von Rassifizierung, also von der Gemachtheit von „Rassen“ durch die herrschenden Ausbeutungsstrukturen, widerspricht dem, es als Hilfsmittel der Organisierung, also zur gemeinsamen Kampfgrundlage zu machen, denn dadurch wird es auch festgeschrieben. Das „Ich bin auch betroffen!“ kann vielleicht dazu dienen, sich selbst zu ermächtigen, auch als Gruppe, was ja aus linker, emanzipativer Sicht notwendig und berechtigt ist. Aber es reicht eben nicht weiter als dazu, die unmittelbaren damit Konfrontierten solidarisch, moralisch unter Druck zu setzen. Das Ende vom Lied ist dann vielleicht, etwas von deren Privilegien abzubekommen, also das berühmte „gleiche Chancen“ oder Gleichberechtigung. Es kann aber an den zugrunde Spaltungsmechanismen nichts ändern, weil die, je nach Kräfteverhältnissen immer neue Formen annehmen.

Ich fordere deshalb dazu auf, den gemeinsamen Kampf gegen die Ausbeutungssysteme, die den verschiedenen erlebten Formen von Diskriminierung und Unterdrückung zugrunde liegen, weiter gemeinsam zu bekämpfen. Gemeinsam – das heißt nicht einfach nur, solidarisch zu unterstützen, sondern im konstruktiv-kritischen Diskurs zu bleiben, weiter Fragen aneinander zu richten, Einwände zu erheben, Standpunkte auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen. Aber nicht Ausgrenzung durch Eingrenzung zu beantworten, bzw. sich selbst ein Sprechverbot wegen fehlender Betroffenheit aufzuerlegen.

Klaus Viehmann schreibt:“ Die Notwendigkeit, sich zu organisieren und interne Spaltungen entlang der Klassenlage, dem Geschlecht und der „Rasse“ zu identifizieren und perspektivisch zu überwinden, gab es nach Überzeugung der 3:1-Diskutant:innen für alle Linken.“ Interessant ist, was hier „perspektivisch“ heißt. Heißt es das im Sinne der klassischen und doch hoffentlich überholten Nebenwiderspruchs-Theorie? Erstmal entlang der von den Ausbeutungssystemen erzeugten Spaltungen sich organisieren, und dann später irgendwann den Feind neu bestimmen und wieder zusammenkommen? Das wird nicht möglich sein, wenn die Art der Betroffenheit die Identität bestimmt, die sich im Laufe der Kämpfe gegen diese spezielle Diskriminierung immer weiter verfestigt.

Das „perspektivisch“ muss anders bestimmt werden, nämlich als ein Gleichzeitiges. Das bedeutet, die Aufteilung in weiße Männer, bürgerliche schwarze Frauen, in weiße Proletarierinnen und schwarze Sexisten taugt nicht dazu, um zu bestimmen, mit wem oder gegen wen wir zu kämpfen haben. Die Bündnisfähigkeit bezieht sich immer auf Verhaltensweisen, nicht auf Identitäten. Wenn ich die sexistische Verhaltensweise eines PoC-Mannes anprangere, mich vor ihr schütze, heißt das nicht, dass ich diesen Mann der Kategorie der Sexisten zuordne, und Deckel drauf. Wenn eine weiße Arbeiterin (kann auch ne PoC oder ne Migrantin sein!) auf eine andere Bevölkerungsgruppe schimpft, die angeblich minderwertig ist oder ihr die Lebensgrundlage streitig macht, dann ist sie nicht als Person eine Rassistin, sondern sie ist auf die rassistische Klassenspaltung des ausbeutenden Systems hereingefallen. Es gibt keinen Grund, die Kommunikation mit ihr abzubrechen und ihr dies nicht kritisch zu spiegeln(außer man hat die Schnauze voll!)

Klaus Viehmann schreibt: „Es gibt kein schematisches Nebeneinander von Unterdrückungen und Ausbeutung, keine ist völlig auf eine andere zurückführbar oder völlig vereinnahmt von anderen, sie bilden immer eine zusammenhängende historische Wirklichkeit.“ Damit erneuert er die Feststellung aus dem 3:1-Papier:“ Die Vorstellung einer netzförmigen Herrschaft, (…) berührt auch die Frage nach dem revolutionären Subjekt. Wenn es nicht mehr aus einer Dualität, aus einer einzigen letztlichen Ursache abgeleitet werden kann, dann kann auch keiner Gruppe von Unterdrückten mehr eine privilegierte Avantgardeposition zugewiesen werden.“

Genau das ist aber eingetreten, und genau das folgt aus der Argumentation des 3:1-Papiers. Wenn weiter vorn in Bezugnahme auf den feministischen Diskurs von den „blinden Flecken“ die Rede ist, dann betrifft das ja nicht nur die weißen Männer, sondern auch dieselben weißen Frauen, die eben dies geltend gemacht haben, nur in Hinsicht auf einen anderen Zusammenhang, so wie die schwarzen Männern und die weißen und schwarzen Angehörigen des Mittelstandes. Es würde bedeuten, dass sie alle nicht bei den jeweils anderen Unterdrückungsverhältnissen mitreden können, es also eine intersektionale Debatte gar nicht geben kann.

Nach dieser Konstruktion können, was die Überlagerung der Unterdrückungsverhältnisse betrifft, wirklich nur die rassifizierten lohnarbeitenden Frauen mitreden, bzw. sagen, wo’s lang geht. Und leider ist genau das die Nachwirkung dieses Versuchs, die Unterdrückungsverhältnisse zusammen zu denken. Sie hat zu einer Staffelung von mehr oder weniger berechtigten moralischen Ansprüchen auf Teilhabe geführt, letztlich zu dem, was Christan Frings meiner Ansicht nach zu Recht als „liberalen Antirassismus“ kritisiert.

Ich stimme mit Christian Frings und den Autorinnen des Buches überein, dass ein Aufbegehren gegen Diskriminierung und Unterdrückung letztlich scheitern muss oder vereinnahmt wird, wenn es nicht von der Seite seiner materiellen Notwendigkeit betrachtet wird, halte also auch den Primat der „ökonomistischen“ Position für richtig. Allerdings sehe ich da nicht das Kapitalverhältnis als Ausbeutungsform vorne, sondern das Patriarchat.

Primat der patriarchalen Aneignung

Nach meiner Ansicht ist das Patriarchat die Urform der Ausbeutung auf gesellschaftlicher Ebene, wenn der Begriff aus seiner Festlegung auf biologistische bzw. sozial definierte Geschlechter-Zugehörigkeit entkoppelt wird. Hinter die Erkenntnisse aus den Gender-Debatten sollten wir nicht zurückfallen. Ebenso wie „Rasse“ ist „Geschlechtszugehörigkeit“ sozial und historisch gemacht. Es macht in meinen Augen Sinn, Patriarchat so zu verstehen: Ein Teil einer Gesellschaft erhebt den Anspruch, den anderen Teil führen und beschützen zu wollen, zu können und zu müssen. Die daraus resultierende Abtretung von Macht, bzw. die damit begründete und mit Gewalt oder Gewaltandrohung durchgesetzte Ergreifung von Macht bildet die Grundlage dafür, die Ressource, die der andere Teil der Gesellschaft darstellt, ausbeuten und aneignen zu können (näheres weiter unten).

Die kapitalistische Ausbeutung sehe ich als die neuzeitliche Variante der patriarchalen. Aufklärung und Technisierung haben eine Mega-Maschine geschaffen, die sich selbst antreibt und von ihrer permanenten Beschleunigung und Selbstverwertung lebt. Imperialismus ist über die Vorstufe des Kolonialismus (den ich zu den patriarchalen Aneignungsformen rechne) die weltweite Ausdehnung der kapitalistischen Aneignungsordnung.

Ich spreche hier ausdrücklich nicht nur von Ausbeutung, sondern von Aneignung. Denn das Interesse daran, etwas oder jemand auszubeuten, macht nur Sinn, wenn das Ausgebeutete dauerhaft angeeignet werden kann.

Solange die (erzwungene) Akzeptanz von Eigentum, also dem gesicherten uneingeschränkten Verfügungsrecht über einen Gebrauchswert/eine Ressource, die gesamte Weltgesellschaft strukturiert, ist die ökonomische Analyse die unverzichtbare Basis für das Verständnis gesellschaftlicher Beziehungen und ihrer Veränderbarkeit. Eigentum garantiert exklusiven Genuss und ermöglicht gleichzeitig Herrschaft; Herrschaft dient zur Absicherung und Vermehrung von Eigentum.

Insofern ist in der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse ein deutlicher Unterschied zwischen „Unterdrückung/Diskriminierung“ und „Ausbeutung“ zu machen. Es geht im Ziel immer um die Ausbeutung, d.h. die Vermehrung des Eigentums; die Unterdrückung ist immer nur ein Mittel dazu. Das „nur“ darf nicht so verstanden werden, dass es irgendwie unwichtiger wäre, im Gegenteil – es ist der eigentliche Schauplatz der Kämpfe. Nur durch Unterdrückung und Diskriminierung ist die Ausbeutung zu realisieren – aber trotz aller Dramatik ist die Unterdrückung nicht das, worum eigentlich gekämpft wird. Wenn also gegen Unterdrückung gekämpft wird und sich der Kampf dabei nicht gleichzeitig gegen die Ausbeutungsordnung richtet, wird die Ausbeutung sich einfach neuer Formen der Unterdrückung bedienen. (SklavInnen -> Lohnabhängige -> selbstverwertende EinzelarbeiterInnen).

Kapitalismus ist die Ausbeutungsordnung für die Aneignung der Produktivkraft menschliche Arbeit; die Unterdrückungsformen ergeben sich aus dem Stand der jeweiligen Kämpfe dagegen; ihr gesellschaftliches Erscheinungsbild wird als „Klassismus“ bezeichnet.

Auch wenn ich es, wie oben beschrieben, allgemeiner fassen würde, ist Patriarchat nach allgemeinem Verständnis die Ausbeutungsordnung für die Aneignung der Produktivkraft zur Herstellung von Leben, speziell die Aneignung der Herstellung von Arbeitskraft. Sie ist somit die Voraussetzung für die kapitalistische Ausbeutung. Die eine Hälfte der Menschheit wird als „weiblich“ konnotiert und eingespannt, um die andere Hälfte der Menschheit zu ermächtigen. Die vorherrschende Unterdrückungs- und Diskriminierungsform in diesem Verständnis von Patriarchat ist „Sexismus“ oder „Machismus“, in ihrem wohlwollenden Gewand auch „Paternalismus“. Auch die eindeutige geschlechtliche Zuordnung sowie der Zwang, eine dieser Rollen einzunehmen, gehört zu den Unterdrückungsformen, also Heterosexismus, Schürung von Homo- und Transphobie. Dass die Fronten hierbei entlang der Linie der zugewiesenen Geschlechter verläuft, ist gesellschaftlich und historisch bedingt, ist aber, wie ich oben schon sagte, nicht zwingend so.

Die Bezeichnung „Reproduktion“ bindet die Lebensproduktion analytisch an die Wiederherstellung der Arbeitskraft und reduziert so die patriarchale Ausbeutung auf diejenige, die dem Kapitalismus als Futter dienen. Das halte ich aus den oben genannten Gründen für falsch. Patriarchale Ausbeutung ist sehr viel älter als der Kapitalismus und endet mit diesem auch nicht automatisch.

Ich will es innerhalb dieser Systematik wiederholen: „Rassismus“ ist eine weltweit angewandte und bis in die kleinsten gesellschaftlichen Poren wirksame Unterdrückungs- und Diskriminierungsform; sie ist für sich aber keine Ausbeutungsordnung. Über den Rassismus selbst wird nicht angeeignet; welchem Aneignungssystem, welcher Ausbeutungsordnung dient er? Historisch ist er dem Ausbeutungssystem Kolonialismus zuzuordnen, in dem eine Region, ein Land, ein Kontinent sich eines anderen bemächtigt, seine Ressourcen aneignet. Damit Menschen aus anderen Ländern als „Rohstoff“ verstanden werden konnten, musste eine Grenze zwischen verwertbaren und zur Verwertung berechtigten Menschen gezogen werden. Die dazu erfundene Kategorie der „Rasse“ markiert diese Grenze. „Beim Definieren und Klassifizieren »der Anderen« wird auch das Selbst, die eigene Identität konstruiert“, schreibt Bafta Sarbo in „Diversität der Ausbeutung“.

Die angebliche Minderwertigkeit wurde anhand von äußerlichen Merkmalen naturalisiert. Der geopolitisch organisierte Kolonialismus besteht im Alltags-Rassismus fort, hat sich aber als Ausbeutungsform in das gewandelt, was wir Imperialismus nennen - die Symbiose von Kapitalismus und Kolonialismus.

Jetzt komme ich zurück auf meine Kritik am 3:1-Papier und an Klaus Viehmanns Verteidigung gegen die Kritik von Christian Frings: Es liegt ein Kategorien-Fehler vor, wenn Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus in einer Ebene angeordnet diskutiert werden. So müsste es aussehen:

Sexismus/ Machismus -> Patriarchat; „Klassismus“ -> Kapitalismus; Rassismus/Chauvinismus -> Imperialismus/ (Post-)Kolonialismus.

Bin ich jetzt selber dem von mir eingangs beschriebenen Hang zum Ordnen erlegen? Nein, denn für mich ist das kein Formalismus, sondern eine notwendige Systematisierung. Es hat Konsequenzen dafür, ob Abwehr- und Selbstverteidigungskämpfe, auch die Solidarität damit, in Kämpfe um „die ganze Bäckerei“, also zur Abschaffung des verursachenden Übels werden können. Die Ausbeutungssysteme sind durchaus zu Zugeständnissen bereit, wenn sie im Schatten dieser Kompromisse ihre Unterdrückungs- und Diskriminierungsformen den neuen Gegebenheiten anpassen können. WortführerInnen im Arbeitskampf werden über die Gewerkschaften oder über Betriebsrats-Hierarchien in die Reihen der UnternehmensführerInnen aufgenommen. Die Quotierung Frauen – Männer, auch Vorzeigung von Schwulen und Lesben ist selbst für CDU und AFD kein Problem mehr. Und es gibt keine Fernsehsendung, keine Serie mehr, in der „farbige“ Menschen nicht integriert würden.

Für die unmittelbar Beteiligten ist damit vielleicht etwas gewonnen, aber der Mechanismus der Spaltung wandelt sich nur, er bildet, wie Chiapello/Boltanski es ausdrücken, einen „neuen Geist“ heraus. Teilhabe an der Macht ist nicht mit der Infragestellung von Macht zu verwechseln. Auch, dem einen System der Ausbeutung zu entkommen, um im anderen System daran teilzuhaben, wie Frantz Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“ schon warnend analysiert hat und Bafta Sarbo zutreffend zitiert.

Rassismus, Sexismus und Klassismus wird, wenn es als Frage der Einstellung bekämpft wird, zu schlechtem Benehmen, dem mit öffentlichen Belehrungen, Kursen und Sprachregelungen beizukommen ist. Die Flexibilität der Ausbeutungssysteme lässt das zu, dazu sind sie wendig genug, solange sie dabei nicht selbst infrage gestellt werden.

Die grundsätzliche Infragestellung der Aneignungssysteme muss immer an der scheinbar unantastbaren Idee des Eigentums ansetzen, also daran, dass ein Gut irgendjemand unanfechtbar „gehört“. Und das bezieht sich meiner Meinung nach nicht nur auf Produktionsmittel, aber das kann ich hier nicht weiter ausführen.

Kampf gegen Diskriminierung/Unterdrückung ist immer der Ausgangspunkt

Ich möchte zum Schluss die Frage aufgreifen, wie realistisch die Forderung von Christian Frings und den Autorinnen des Buches ist, im Kampf gegen Diskriminierung immer auch das zugrunde liegende Ausbeutungsverhältnis zu sehen, zu benennen und anzugreifen.

Christian Fings schließt sich in seiner Argumentation dem Medico-Papier an, das damals die 3:1-Broschüre kritisiert hatte: „Wie aber ist Antiimperialismus dann noch zu fassen, wenn nicht als ... Kampf, der sich an all diesen Fronten gleichzeitig gegen die Herrschaft des Imperialismus auflehnt? Und welches soll das hegemoniale soziale Subjekt in diesem Kampf sein, wenn nicht die Mehrheit der Weltbevölkerung aus den Slums und Lagern?“ Diese Einschätzung halte ich für konstruiert und weltfremd, sie hat etwas Romantisches. Wer rebelliert, tut das, weil er/sie unter einem konkreten Unterdrückungsverhältnis leidet, sein/ihr Leben, Gesundheit, Zukunft bedroht ist, seine/ihre Selbstachtung verletzt, die Entfaltungsmöglichkeit beschnitten wird.

Das Aufbegehren richtet sich immer zuerst gegen die erfahrene Unterdrückung. Und es gibt sehr viel mehr Rebellierende auf der Welt als AntikapitalistInnen – leider! Da nutzt es auch nichts, sie dazu zu erklären, weil man ihre wahren Absichten so interpretiert. Und es nutzt auch nichts, darauf hinzuweisen, dass Brot-, Land-, oder Lohn-Rebellionen dem Kapital Verwertungsschranken setzt. Repression hat viele Gesichter und wandelt sich ständig.

Die Kritik von Frings und Mendivil/Sarbo greift zu kurz, dass die sozialen (Abwehr-)Kämpfe, wenn sie sich nicht als antikapitalistischer Kampf verstehen, zwangsläufig neoliberal vereinnahmt werden. Die Lösung ist aber auch nicht dadurch zu erwarten, dass sich schlaue, marxistisch geschulte Kadergruppen in die sozialen Kämpfe einmischen und darin den entscheidenden klassenkämpferischen Bewusstseinsprozess einleiten. Die Erfahrung müssen die Menschen im Widerstand selbst machen, dass Diskriminierung, Unterdrückung und ganz allgemein, Zerstörung, nur nachhaltig beendet werden kann, wenn die Systeme der Ausbeutung und Aneignung gekippt werden können. Die Sehnsucht nach dieser Art von Umwälzung entsteht aus den Werten, die in den Kämpfen selbst entwickelt werden. Die Erfahrung von brüderlich/schwesterlicher Kollektivität und Solidarität, von Selbstlosigkeit und Offenheit, von der Relativität der eigenen Bedürfnisse, von einer positiven Streitkultur machen sensibel für die Mechanismen der Ausbeutungssysteme, die genau dies verhindern und zerstören.

Deshalb werden Bewegungen, die ihre Kraft und ihre Legitimation aus der Abschottung gegenüber anderen ziehen, zu Sackgassen. Sie enden entweder durch Bestechung, z.B. durch die Gewährung von Teilhabe und Privilegierung für Einzelne, oder verschwinden durch Kriminalisierung, Isolierung, Marginalisierung. Die Kraft, nach den unvermeidlichen Niederlagen sozialer Widerstandskämpfe weiterzumachen, entwickelt sich nur, wenn man erfahren hat, wie es anders sein könnte. Das hilft, sich von den Teilhabe-Angeboten nicht bestechen zu lassen und von der Repression nicht entmutigen zu lassen.

Meiner Ansicht nach setzt das aber voraus, die eingezogenen Grenzen durch die verschiedenen Diskriminierungsformen nicht schon zu einem emanzipativen Standpunkt zu erklären, sondern sie tendenziell immer aufzuweichen. Das heißt, ich kämpfe mit dem Sexisten gegen den Sexismus, mit der Rassistin gegen den Rassismus, mit der bürgerlich Sozialisierten gegen die Klassengesellschaft. Und zusammen kämpfen heißt hier, sich ernst nehmen, sich auseinandersetzen, sich beistehen.

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