Was es heißt, Marxist zu werden und zu bleiben
von Mike Davis*
Seine Bücher öffneten neue Horizonte. Mike Davis schrieb über die Geschichte der Vereinigten Staaten, die koloniale Politik des Hungers, die wachsende Gefahr durch Pandemien, Megastädte im Globalen Süden und, immer wieder, über die politische Ökonomie der Stadt. Als »marxistischer Umweltschützer«, wie er sich selbst bezeichnete, deckte er Zusammenhänge auf, die bis dahin weder in der bürgerlichen Öffentlichkeit noch in der linken Debatte beachtet worden waren.
Seine Bücher sind mitreißend geschrieben, wissenschaftlich fundiert und unnachgiebig kritisch gegenüber den herrschenden Verhältnissen.
Ende Oktober 2022 starb Mike Davis nach langer Krankheit an Speiseröhrenkrebs. Wir veröffentlichen einen stark gekürzten Auszug aus Old Gods, New Enigmas: Marx’s Lost Theory**. Davis schreibt über Karl Marx und verrät dabei einiges über seinen eigenen politischen Werdegang.
»Lies Marx!« Diese Aufforderung von Lee Gregovich schwirrt mir seit mehr als einem halben Jahrhundert im Kopf herum. Er war ein guter Freund meines Vaters und so etwas wie mein »roter Taufpate«. Seine Familie war, wie viele andere von der dalmatinischen Küste, vor dem Ersten Weltkrieg in die USA ausgewandert, um im Südwesten des Landes in Kupferminen zu arbeiten. Sie führten gewaltige Arbeitskämpfe. Lee erzählte, wie er die Zeitschrift der Industrial Workers of the World (IWW) in Kneipen und Puffs verkaufte oder wie er mit ansehen musste, wie sein Vater und 1300 andere streikende Bergarbeiter von einer Bürgerwehr verhaftet, in mit Dung gefüllte Viehwaggons verfrachtet und in einen trostlosen Wüstenstreifen in New Mexico »abgeschoben« wurden. In den 30er Jahren engagierte er sich in einer Gewerkschaft von Köchen in San Diego und trat der Kommunistischen Partei bei. 1954 musste er vor dem »Ausschuss für unamerikanische Umtriebe« aussagen, und die Restaurantbesitzer setzten ihn auf eine schwarze Liste. Schließlich fand er einen Job als Koch im »Chicken Shack«, einer Raststätte in der Nähe des kalifornischen Bergstädtchens Julian.
Mein Vater erlitt einen schlimmen Herzinfarkt, als ich die weiterführende Schule begann. Deswegen unterbrach ich die Highschool und arbeitete als Fahrer für den Fleischgroßhandel meines Onkels. Das »Chicken Shack« war unser am weitesten entfernter Kunde. Einmal die Woche fuhr ich die lange Straße nach Julian hinauf. An solchen Tagen hatten Lee und ich ein Ritual: Nachdem wir die Ware verstaut hatten, schenkte er mir ein kleines Glas Rotwein ein. Wir unterhielten uns kurz über die Gesundheit meines Vaters oder die Bürgerrechtsbewegung, und als ich aufstand, um zu gehen, klopfte er mir auf den Rücken und sagte: »Lies Marx!« Ich habe diese Geschichte immer gerne erzählt. Ich war nicht überrascht, als in meiner FBI-Akte eine entstellte Version davon auftauchte, die andeutete, dass Lee ein sowjetischer Agent war.
Lee selbst hatte, wie Millionen einfacher Sozialisten und Kommunisten, Marx kaum oder gar nicht gelesen. Lohnarbeit und Kapital möglicherweise, sicherlich etwas Lenin, dessen Karl Marx [1914] ein beliebter Ersatz für die Lektüre des alten Mannes selbst war. Die meisten Leser scheuten vor dem theoretischen Hochgebirge zurück, dem Kapital. Die wenigen, die es versuchten, stürzten in der Regel in eine der Bergspalten im ersten Kapitel und gaben auf. Ihr Scheitern verstärkte allerdings nur den Nimbus des Genies von Marx und das Prestige der Parteiintellektuellen, die behaupteten, es bis zum Gipfel geschafft zu haben. Eine Untersuchung der Arbeiterbibliotheken im wilhelminischen Deutschland zeigt, dass proletarische Leser vor allem am Darwinismus und an materialistischer Naturgeschichte interessiert waren, nicht an der Kritik der politischen Ökonomie. In den 30er Jahren schätzten Autoren einer Marx-Biografie, dass »vielleicht einer von tausend Sozialisten jemals eine der ökonomischen Schriften von Marx gelesen hat, und von tausend Antimarxisten nicht einmal einer«.
Daran hatte sich wenig geändert, als ich 1968 der Kommunistischen Partei Südkaliforniens beitrat. Meine eigenen Kenntnisse beschränkten sich auf Frühschriften. Das einzige Parteimitglied in Los Angeles, ob jung oder alt, das ein echtes Verständnis von Marx zu haben schien und sogar seine Werke auf Deutsch las, war Angela Davis, die gerade beigetreten war. Aber sie kämpfte zu viele wichtige Schlachten, um Zeit zu haben, den Rest von uns zu unterrichten.
Marx war ein Fremder in den marxistischen Bewegungen. Das lag nicht nur an der Schwierigkeit bestimmter Schlüsselwerke und Textstellen. Zum Beispiel: Wo anfangen? Wenn man mit der Dialektik begann, sah einen Hegel mit finsterem Blick an, während man immer verwirrter wurde – zumindest machte ich diese Erfahrung, als ich versuchte, Marcuses Vernunft und Revolution während der Mittags- und Abendbrotpausen bei der Arbeit zu verdauen. Jahre später freute ich mich, als ich ein Epigramm entdeckte, in dem der junge Marx seine eigene Frustration über den Meister niederschrieb:
»Worte lehr’ ich, gemischt in dämonisch verwirrtem Getriebe | Jeder denke sich dann, was ihm zu denken beliebt.« [MEW 40:607.]
[…] 1973 verlor ich meine Stellung in der Lkw-Branche und schrieb mich bei der Universität Los Angeles ein, nachdem ich von einem exzellenten Seminar über das Kapital unter der Leitung von Bob Brenner gehört hatte. Er und seine Gruppe lasen Das Kapital im Kontext der Debatten im britischen Marxismus über die agrarischen Klassenkämpfe und den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Später beschäftigten sie sich mit Krisentheorie und der Wirtschaftsgeschichte des 20.Jahrhunderts. Das Seminar war eine aufregende Erfahrung und gab mir das intellektuelle Selbstvertrauen, um meinen eigenen Interessen zu folgen: politische Ökonomie, Arbeitergeschichte und Stadtökologie.
Ich verlor weitgehend das Interesse an Marx-Studien, als die Debatte über Unterentwicklung und internationale Arbeitsteilung (die Debatte über die Produktionsweisen) in immer kleinteiligere Kämpfe über die Wertform, das Transformationsproblem und die Rolle der Hegelschen Logik mündete. Als »Theorie« sich Ende des Jahrhunderts von den realen Kämpfen und den großen historischen Fragen abkoppelte, schien sie mir eine geradezu antiaufklärerische Wendung zu nehmen. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass Lee Gregovich irgendjemand aufgefordert hätte: »Lies Jamenson, lies Derrida!«, oder gar, sich durch Empire von Antonio Negri und Michael Hardt zu wühlen. […]
Es steht außer Frage, dass Marx weit über den Horizont seines Jahrhunderts hinausblickte und dass sein Werk auch im Zeitalter von Walmart und Google verblüffend aktuell geblieben ist. Dennoch war seine Vision durch den untypischen Charakter seiner Zeit begrenzt: die wohl friedlichste Periode der europäischen Geschichte seit tausend Jahren. Abgesehen von kolonialen Feldzügen schien der liberale Kapitalismus mit London als Zentrum nicht auf große zwischenstaatliche Kriege angewiesen zu sein, die unvermeidlich aus seinen Widersprüchen entstehen und für seine Reproduktion notwendig sind. Marx starb, bevor der neue Imperialismus in den späten 1880er und 1890er Jahren zu Nullsummen-Konflikten zwischen den Großmächten um die jeweiligen Anteile am Weltmarkt führte.
Ebenso wenig konnte er den schrecklichen Preis vorhersehen, den die Konterrevolution im nächsten Jahrhundert fordern würde, trotz des Massakers an den Kommunarden im Jahr 1871. Den stalinistischen Thermidor eingeschlossen, kostete sie mindestens sieben bis acht Millionen Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten das Leben. Außerdem deutete während Marx’ Lebenszeit alles darauf hin, dass der religiöse Glaube immer weiter verschwinden und die Industriegesellschaft säkular werden würde. Nach seinen frühen religionskritischen Schriften hielt er das Thema für abgeschlossen. Aber gegen Ende des 19.Jahrhunderts kehrte sich der Trend um. Der politische Katholizismus wurde in weiten Teilen Europas zum wesentlichen Konkurrenten von Sozialismus und Kommunismus. Er verhinderte linke Wahlmehrheiten in den 1910er bis 1920er Jahren und abermals in den 1950er bis 1970er Jahren. Das überraschende Wiederaufleben der katholischen Kirche – geradezu eine zweite Gegenreformation – beruhte zum großen Teil auf der Verbreitung der Marienverehrung und der starken Anziehung, die die Kirche auf proletarische Mütter ausübte. Der patriarchalische Charakter der Arbeiterbewegung, den Marx und Engels nie in Frage stellten, machte sie blind für die Kräfte, die hier am Werk waren. […]
Der Kult um Marx trug ähnliche Züge wie der vorausgegangene Lassalle-Kult in der deutschen Arbeiterbewegung. Dieser Kult ehrte zurecht ein Leben, das fast ausschließlich der Befreiung der Menschheit gewídmet war. Aber als Kult versteinerte er natürlich die lebendigen Gedanken und die kritische Methode von Marx. Natürlich war sich Marx dieser Gefahr bewusst, weshalb er einmal über den »orthodoxen Flügel« einer Arbeiterpartei sagte, er selbst wenigstens sei kein Marxist. Wie oft hätte er das im 20.Jahrhundert noch sagen müssen?
*stark gekürzter Auszug aus Old Gods, New Enigmas: Marx’s Lost Theory
**Das Buch erschien 2018 bei Verso (www.versobooks.com/books/3038-old-gods-new-enigmas).
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