Reallohnverlust ist eingeplant
von Jakob Schäfer
Mit Hilfe der Bundesregierung ist es dem Kapital der Metall- und Elektroindustrie gelungen, einen Tarifabschluss über zwei Jahre zu erzielen, bei dem die Einkommenszuwächse drastisch hinter den zu erwartenden Preissteigerungen zurückbleiben werden.
Der Pilotabschluss von Baden-Württemberg besagt im Kern: Die Entgelte werden in zwei Schritten erhöht (am 1.6.2023 um 5,2 Prozent und am 1.5.2024 um 3,3 Prozent), und es wird eine Inflationsausgleichsprämie gezahlt: 1500 Euro im ersten Quartal 2023 und weitere 1500 Euro ein Jahr später. Die Laufzeit beträgt 24 Monate. Die einzige nennenswerte ergänzende materielle Vereinbarung ist die Erhöhung des Zusatzentgelts von 12,3 Prozent auf 18,5 Prozent, was für die Entgeltgruppe 7 eine Steigerung von 400 auf 600 Euro ausmacht.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Reallohnverlust im Verlauf dieser zwei Jahre – je nach der tatsächlichen Preissteigerungsrate – mindestens bei 7 Prozent liegen wird, wahrscheinlich aber eher bei 11–13 Prozent, wenn die Preise weiterhin mit 10 Prozent oder noch mehr steigen.
Laufzeit zu lang
Bei so unsicherer Preisentwicklung hätte man mindestens eine Öffnungsklausel durchsetzen müssen, die festlegt, dass bei einem Überschreiten der Inflationsrate von 4,25 Prozent (8,5 Prozent geteilt durch 2) sofort die Friedenspflicht endet und neu verhandelt werden muss. Noch besser wäre natürlich der Abschluss einer Vereinbarung zum automatischen Inflationsausgleich (gleitende Lohnskala), aber mit der Tarifpolitik der IGM und vorher der IG BCE erleben wir ja gerade das Gegenteil.
Trotz aller Beteuerungen im Vorfeld seitens der IG-Metall-Verhandlungsführung ist es dem Kapital wieder mal gelungen, Einschränkungen durchzusetzen, mit denen sich dann die Betriebsräte rumschlagen müssen. Zum einen kann die Auszahlung der Inflationsausgleichszahlung per Betriebsvereinbarung verschoben werden. Wenn also die Geschäftsleitung nur genug jammert und der Betriebsrat nicht stark genug ist, wird es an vielen Orten genau diese Verschiebungen geben.
Zum anderen kann die Auszahlung des Zusatzentgelts bis zum April des Folgejahres verschoben werden, wenn der Betrieb in einer »schwierigen wirtschaftlichen Situation« ist. Die IG Metall akzeptiert, dass die »wirtschaftliche Schwierigkeit« dann eingetreten ist, wenn die Umsatzrendite unter 2,3 Prozent liegt. Besonders skandalös: Die Angaben zur Rendite können von der Kapitalseite beliebig manipuliert werden, denn eine Öffnung der Bücher ist bei den Verhandlungen zum Zusatzentgelt nicht vorgesehen.
Das Ergebnis bleibt nicht nur hinter den Erfordernissen zum Erhalt des Lebensstandards der Kolleg:innen zurück, sondern auch hinter den konkreten Möglichkeiten. Hunderttausende haben sich an den Mobilisierungen beteiligt, die Streikbereitschaft war bis zum Schluss hoch. Nichts zwang die IG Metall, zu diesem Zeitpunkt einen Abschluss zu tätigen – außer den Sorgen um die Exporte und die Kapitalrendite, die offensichtlich auch die IGM-Funktionäre umgetrieben hat.
Der Apparat der IGM – das sind vor allem die hauptamtlichen Funktionäre in den Verwaltungsstellen, die diesen Abschluss jetzt erläutern und »verkaufen« müssen – erklärt, dass die Tarifpolitik nicht alles ausgleichen könne, was durch die Preissteigerungen an Belastungen auf die Beschäftigten zukomme. Deswegen habe man sich »in Berlin« für die Entlastungspakete eingesetzt, die ohne das Einwirken der Gewerkschaften so nicht zustande gekommen wären.
Nachschlag notwendig
Aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren müssen wir damit rechnen, dass das Ergebnis relativ glatt durchgewunken wird.
Erstens haben die meisten Kolleg:innen wenig bis überhaupt keine Erfahrungen mehr mit offensiv geführten Tarifkämpfen, sodass die Erwartungshaltung von vornherein nicht sehr hoch war. Viele Kolleg:innen sind spontan recht zufrieden.
Zweitens wirkt immer noch die tabellenwirksame Zahl von insgesamt 8,5 Prozent bei vielen Kolleg:innen als gute Zahl – und sie ist immerhin besser als in der Chemiebranche. Dass die Laufzeit diese Zahl faktisch mindestens halbiert und dass dem weiter eine hohe und eher steigende Inflation gegenübersteht, wird entweder nicht wahrgenommen oder bewusst verdrängt.
Drittens wirkt die Einmalzahlung (zweimal 1500 Euro), die steuer- und abgabenfrei gezahlt wird. Dass dabei keine Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt werden, wird einfach ignoriert. Das Kalkül der Bundesregierung scheint bisher jedenfalls voll aufzugehen: Psychologisch wirkt der Gesamtbetrag.
So bitter das ist: Wahrscheinlich wird es keinen Aufschrei in den Betrieben geben, auch nicht in den stark vom Apparat kontrollierten Tarifkommissionen. Umso wichtiger ist es jetzt, nüchtern die Dürftigkeit dieses Abschlusses darzustellen und die Kolleg:innen gedanklich darauf vorzubereiten, dass man in einiger Zeit eine Bewegung für eine Nachschlagrunde in Gang setzen muss.
Denn die Entlastungspakete bestehen nur aus Einmalzahlungen, der Reallohnabbau, der mit diesem Tarifabschluss vereinbart wurde, ist aber von Dauer. Auf die Regierungspolitik zur Eindämmung der Preissteigerungen ist kein Verlass. Am wirksamsten sind und bleiben höhere Löhne und Gehälter. Letztenendes muss aber auch klar sein: Ohne den Aufbau einer linken, klassenkämpferischen Strömung wird sich an der generellen (Tarif-)Politik der Gewerkschaften nichts ändern lassen.
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