Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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Nur Online PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2022

Drei zu Eins“ als Gründungspapier liberaler Identitätspolitik
von Torsten Bewernitz

„Drei zu eins“ war der erste längere politische Text, den ich überhaupt je gelesen habe. Ich hatte gerade angefangen zu studieren, mich einer linken Hochschulliste angeschlossen und wir haben ein gemeinsames Theoriewochenende veranstaltet.

Ein Jahrzehnt später waren wir – dann als autonomer Infoladen – der Meinung, zu viele junge Linke hätten die Basics dieses Texts vergessen und ihn in einer Abendveranstaltung vorgestellt und diskutiert. Der Witz dabei waren wohl die umgekehrten Vorzeichen: Ging es in den frühen 1990ern darum, über die Klasse das Patriarchat und den Rassismus nicht zu vergessen, wollten wir in den frühen 2000ern eher darauf hinweisen, dass es auch noch die Klasse gab.

Während ich Anfang der 1990er „Drei zu eins“ super fand, geriet mir die Veranstaltung in den frühen 2000ern aber zu einer Kritik, die mit der von Christian Frings übereinstimmt. Was Frings beschreibt, war damals genau mein Punkt: Viehmann u.a. haben Klasse, „Rasse“ und Geschlecht nebeneinandergestellt als gleichberechtigte „Widersprüche“, heute wären es wohl gleichberechtigte „Identitäten“. Der Haken dabei war, dass es keineswegs um eine Identität als unterdrückte Klasse ging, sondern Geschlecht und „Rasse“ als unterdrückte Kollektivsubjekte beschrieben wurden, das Klassenverhältnis dagegen als Kapitalverhältnis - bzw. gegen die beiden Ebenen einer Klassenidentität und eines Klassenverhältnisses fröhlich durcheinander.

Das von Viehmann selbst angeführte Zitat zu Beginn seiner Kritik an Frings belegt das schon: Es ginge um „drei Grundstrukturen von Herrschaft“ und die „Autonomien der Frauen, Schwarzen und ArbeiterInnen“ (damals natürlich nicht mit Sternchen). Erstens sind Rassismus, Sexismus und Klassenwiderspruch nicht drei nebeneinanderstehende „Grundstrukturen von Herrschaft“, sondern funktionieren sehr verschieden: Als Arbeiter*innen werden wir in erster Linie nicht unterdrückt, sondern ausgebeutet, sind wir schwarze oder weibliche Arbeiter*innen, dann werden wir überausgebeutet. Das weist auf den zweiten Aspekt in dem Zitat hin: Es gibt keine „Autonomien der Frauen, Schwarzen und ArbeiterInnen“, schon gar nicht voneinander. Frauen sind in ihrer Mehrheit Arbeiterinnen, wenn wir Reproduktion mitdenken, sogar in überwältigender Mehrheit. Für Schwarze gilt dies entsprechend.

In Sache „identitäre“ Arbeiterklasse ist mir aus dem Text am deutlichsten in Erinnerung, wie die Autor*innen ein „Versagen“ der Arbeiterklasse angesichts des Nationalsozialismus (ein Thema, das mich damals weit mehr interessierte) konstatieren: Das ist „Identitätspolitik“ im schlechtesten Sinne, denn wer hat denn „der Arbeiterklasse“ den Auftrag gegeben, den Nationalsozialismus zu verhindern, woher die Idee, dass „die Arbeiterklasse“ das könnte? Das war, anders als Viehmann meint, nicht an Marx orientiert, sondern am Marxismus respektive Marxismus-Leninismus, der dazu neigt, die „Arbeiterklasse“ mit einer historischen Mission auszustatten.

In diesem Sinne war „Drei zu eins“ tatsächlich typisch marxistisch: Es suchte nach einem „revolutionären Subjekt“ und lotete Alternativen zur „weißen, männlichen Arbeiterklasse“ aus, ganz ähnlich wie später Toni Negri und Michael Hardt, die sich dafür den Begriff der „Multitude“ aneigneten. Im Gegensatz zur heutigen Identitätspolitik wurde dabei immerhin noch ein allgemeiner Umsturz mitgedacht, der bei heutiger Antidiskriminierungslogik normalerweise hinten rüber fällt.

Der Kardinalfehler von „Drei zu eins“ liegt m.E. darin, vom Unterdrückungsstatus auf ein Emanzipationspotential zu schließen. Feministische Autorinnen wie Ingeborg Bachmann und Christina Thürmer-Rohr wussten derzeit schon: „„Es ist nicht wahr, dass die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen. [...]. Auf das Opfer darf sich keiner berufen“ (Bachmann). Die Frage nach Möglichkeiten, Potential, Macht und Machbarkeit wird einfach nicht gestellt. Genau das unterscheidet aber die Position „Arbeiter*in“ von den „Identitäten“ Sex/Gender und Ethnisierungen. Die Frau etwa hat, auch in spezifisch feministischen Belangen, dann ein Machtpotential, wenn sie als Arbeiterin Produktion oder Reproduktion bestreikt (dass das tatsächlich komplexer ist, habe ich in meinem Text „The Shape of Strike to come“ in Christoph Wimmers „Where have all the rebels gone?“ dargelegt). Das gleiche gilt für Migrant*innen, die in allen relevanten Aspekten – auch als Flüchtlinge – letztlich auch Arbeiter*innen (weitgehend eigentumslos mit Ausnahme ihrer Arbeitskraft) sind. Die Konzentration auf die Unterdrückungsverhältnisse ohne die Frage nach Potentialen ist eben genau das: moralische Selbstvergewisserung – nur dass es damals eben um eine revolutionäre Moral und nicht um eine linksliberale ging. Das ist zwar ein Unterschied, aber hier waren die als „radikal“ oder „militant“ geltenden Methoden heutiger liberaler Antidiskriminierungspolitik (vulgo: „Identitätspolitik“) schon angelegt. Der Punkt ist: Nur weil man unterdrückt(er) oder ausgebeutet(er) ist, hat man nicht automatisch eine „richtige“ inhaltliche Position: weder als Frau, noch als Schwarze*r und in der Tat auch nicht als Arbeiter*in.

Der Machtaspekt taucht dann bei Viehmann als Aspekt der Stadtguerilla auf. Aber das Gründen der einen oder anderen bewaffneten Guerilla war eben kein Zeichen von Machtpotentialen, sondern ein Zeichen der Schwäche der Linken, das m.E. ursächlich mit dem sprichwörtlichen „Abschied von der Arbeiterklasse“ zusammenhängt. Das ist eine Weisheit, die Anarchist*innen und Anarchosyndikalist*innen schon ein Jahrhundert vorher formuliert haben: Im bewaffneten Kampf werden sie uns immer schlagen, aber unsere Arbeitskraft brauchen sie (was erstens nicht bedeutet, dass die syndikalistische Generalstreik-Theorie widerspruchsfrei wäre und zweitens auch nicht, dass die erstreikten Errungenschaften nicht auch einer bewaffneten Verteidigung bedürften – ich lehne das Konzept „Stadtguerilla“ nicht aus prinzipiellen, sondern einzig und allein aus strategischen Gründen ab).

Es gibt durchaus gute Gründe, dieses Argument mit Skepsis zu betrachten: Wenn das Machtpotential zentral wird, wie etwa heute in Teilen der Organizing-Linken (orientiert an Beverly Silvers Ansatz der Arbeitermacht und dem Jenaer „Machtressourcenansatz“), bedeutet das erstens, dass die Machtasymmetrie zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, Herrschern und Beherrschten, Ausbeutern und Ausgebeuteten oftmals unterschätzt wird (was dann nicht selten dazu führt, dass Einzelpersonen „verheizt“ werden) und zweitens, dass die Klassenfragmente mit höherer Handlungsmacht in den Fokus gestellt werden – die mit Machtpotential ausgestattete Arbeiterklasse ist dann doch wieder weiß und männlich. Das muss nicht so sein, bedenken wir beispielsweise Kim Moodys Analysen der Zentralität der Logistik oder Peter Birkes bemerkenswerte Studie „Grenzen aus Glas“ zu den Bewegungen in der Fleischindustrie und im Online-Handel. Vor allem aber stellt der Aspekt der Machtressourcen auch die Frage einer massenhaften Beteiligung – also Kollektivität und Demokratie – in den Mittelpunkt. Der entscheidende Fingerzeig kommt mal wieder aus dem Feminismus: Veronica Gago, Judith Butler, Jule Govrin und viele andere haben auf die kollektiv geteilte Vulnerabilität bzw. Prekarität der Körper hingewiesen, die im gemeinsamen Einsatz eine Machtressource von unten sind. Slave Cubela hat jüngst umfangreich darauf hingewiesen, dass diese Kollektivität der „Leidarbeit“ auch im Produktionsbereich ein weitgehend blinder Fleck der Arbeiterbewegung ist.

Letztere verschwindet dann übrigens bei Klaus Viehman mir nichts, dir nichts. In seiner Beschreibung des Entstehungskontexts sind es „Sozialrevolutionär*innen, Anti-Rassist*innen und Feministinnen“ denen ein Vorschlag für eine gemeinsame militante Praxis vorgeschlagen werden soll – Arbeiter*innen kommen gar nicht mehr vor, obwohl sie in ihrer vielgeschlechtlichen und vielethnisierten Multiversität (Karl Heinz Roth/Marcel van der Linden) doch die bedeutende Mehrheit der Unterdrückten und Ausgebeuteten stellen. Stattdessen rekurriert er abschließend auf einen Redebeitrag von Flüchtlingsgruppen von 1987, der wiederum darauf verweist, dass „Drei zu eins“ sehr zu recht als Vorläufer des heutigen liberalen Moralismus gelten kann: Gefordert wird in diesem Redebeitrag schlicht schon damals „Checkt eure Privilegien!“ – genau das kritisieren die Herausgeberinnen und Autor*innen des Sammelbands „Die Diversität der Ausbeutung“.

In all diesen Punkten war die Linke in den 1970er Jahren schon mal weiter. Das Klassenverhältnis wurde überall dort sehr gut in seiner Transversalität verstanden, wo Linke in Betrieben auf rebellierende Gastarbeiter*innen stießen und eng mit diesen zusammenarbeiteten. Die internationale „Lohn für Hausarbeit“-Kampagne und der feministische Flügel des Operaismus hatten mit einem kritischen Marxismus, der die Reproduktionsarbeit am Wickel hatte, den entscheidenden Fehler des Traditionsmarxismus bereits ausgemacht.

Vielleicht verkläre ich das als „Nachgeborener“ ein wenig, Klaus Viehmann (aber auch Christian Frings) waren ja dabei und drin, während ich noch ein kleiner Hosenscheißer war. „Drei zu eins“ war sicherlich eine in den frühen 1990ern wichtige politische Intervention, denn die genannten Aspekte waren vermutlich in der Linken der frühen 1990er nicht hegemonial. Das scheint mir aber am ehesten daran zu liegen, dass „die Autonomen“ sich von der Gesamtgesellschaft wie auch von der Klasse der Arbeitenden maximal entfernt hatten und diese nun von weitem „weiß und männlich“ aussah. Als die namensgebenden Autonomen (nämlich die autonomia opereia und Artverwandte) noch mittendrin waren, wussten sie das besser.

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