Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 12/2022

Lula siegt, aber die Zukunft des Landes ist ungewiss
Interview mit Antônio Andrioli

Lula hat die Stichwahl gegen den Präsidenten Jair Bolsonaro gewonnen. Wie bewertest du das Ergebnis?

Es ist ein Sieg der Demokratie nach einem Wahlkampf, in dem Bolsonaro und seine Entourage das Land mit ihren berüchtigten Fake News überflutet, sogar geheime und umfangreiche Haushaltsmittel für Politiker seiner Richtung verteilt und die Bundespolizeibehörden am Tag der Wahl gezielt beauftragt haben, Wähler:innen zu behindern.

Aber er ist gescheitert und brauchte fast drei Tage, um sich zu äußern.
In großen Teilen der Bevölkerung war Erleichterung zu spüren. Obwohl das Ergebnis rechnerisch sehr knapp war (50,9 Prozent gegen 49,1 Prozent bei über 2 Millionen Stimmen Vorsprung für Lula) und der Bolsonarismus sich in Gesellschaft und Parlamenten ausbreiten konnte, zeigt diese Wahl, dass es möglich ist, dem zunehmenden Autoritarismus gegenzusteuern. Sie zeigt auch, wie aktuell die Notwendigkeit von breiten politischen Bündnissen ist, um den Protofaschismus zu schlagen.

Was muss Lula tun, um die politische Spaltung im Land zu überwinden?

Die Spaltung ist nicht nur politisch, sondern hauptsächlich wirtschaftlich bedingt und seit sehr langer Zeit auf eine der schlimmsten sozialen Ungleichheiten der Welt zurückzuführen. Diese Situation wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte politisch zunehmend bewusster von breiten Schichten der Gesellschaft erfahren und kritisiert. Andererseits hat sich insbesondere in der Ober- und Mittelschicht ein wachsender Hass gegenüber den Ärmsten verbreitet. Daraus hat sich später der brasilianische Rechtspopulismus entwickelt.
Wie kann man diesen überwinden? Lula spricht sich deutlich für die Benachteiligten des Landes aus, die am meisten auf die Hilfe der Regierung angewiesen sind. Die entscheidende Frage wird aber sein, inwieweit eine neue Regierung Lula es schafft, die Errungenschaften seiner vorherigen beiden Amtszeiten, die er mit 83 Prozent Zustimmung beendete, vor dem völlig veränderten Hintergrund der schweren Krisen Brasiliens durchzusetzen, ohne eine weitere Welle der Entpolitisierung, Enttäuschung und Empörung breiter Teile der Gesellschaft auszulösen.

Welchen Handlungsspielraum hat er?

Seit dem Putsch von 2016 gegen die Präsidentin Dilma Rousseff wurde Brasilien zunehmend in eine politische Krise geführt. Hinzu kamen eine anhaltenden Wirtschaftskrise und die rückläufige Investitionsfähigkeit des Staates. Die nachfolgenden beiden Präsidenten – Michel Temer, der größtenteils für den Putsch verantwortliche Vizepräsident Dilmas, und der 2018 gewählte Jair Bolsonaro – setzten auf Privatisierung, den Abbau der Sozialprogramme und die Steigerung der Agrarexporte. Das Ergebnis ist Deindustrialisierung, steigende Inflation, zunehmende Arbeitslosigkeit, weitere Landkonzentration, Armut und die Rückkehr des Landes auf die Hungertabelle der UNO.
Die größte Katastrophe ist ihre Umwelt- und Indigenenpolitik, denn mit der Unterstützung der zunehmend mächtigeren Großgrundbesitzer im Parlament sahen beide Regierungen in den reichlichen Naturressourcen des Landes eine Chance, Investoren anzuziehen und zerstörerische Projekte auszuweiten. Das erklärt die überwältigende Zustimmung der Großgrundbesitzer für Bolsonaro und macht die Umsetzung einer Agrarreform besonders schwierig. Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen sind die Merkmale der vergangenen Periode, die zugleich eine des gezielten Abbaus von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war.
Vor diesem Hintergrund hat Lula mit ganz anderen Herausforderungen zu tun als in seinen vorherigen Amtsperioden. Er könnte als erstes versuchen, die Dekrete der letzten Jahre rückgängig zu machen, etwa die Deregulierungen, die in den letzten fünf, sechs Jahren stattgefunden haben. Es ist mehr staatliche Kontrolle im Amazonasgebiet notwendig, wo Holzmafia und wilder Bergbau auch indigene Reservate zerstören. Das muss aufhören.
Wir hoffen sehr auf die Wiederaufnahme der Agrarreform, die seit 1964 gesetzlich vorgesehen ist, und die Rückkehr wichtiger Sozialprogramme gegen Armut und Hunger. Insbesondere muss das Ministerium für Agrarentwicklung, das abgeschafft und in das Landwirtschaftsministerium integriert wurde, wieder aufgebaut werden, um der kleinbäuerlichen Landwirtschaft Priorität für die Nahrungsmittelproduktion zu geben. Ernährungssicherheit muss mit Naturschutz verbunden werden und dafür sind die Kleinbauern und Indigenen entscheidend. Gerade sie aber wurden von der derzeitigen Agrarpolitik Brasiliens am meisten geschädigt.

Welche Politik muss Lula jetzt einleiten, damit er sich gegen die extreme Rechte behaupten kann?

Die Diskussion über den Haushalt 2023 sollte so schnell wie möglich beginnen, sonst werden wichtige Versprechen im Wahlkampf – Sozialleistungen für die Ärmsten, Anhebung des Mindestlohns und Lohnsteuerbefreiung für Kleinverdiener – nicht umgesetzt werden können. Solche Maßnahmen sind sehr dringend, dürften aber auch auf Zustimmung in der Mehrheit der Gesellschaft stoßen.
Für die neue Regierung Lula geht es zunächst um die Erlangung von Handlungsfähigkeit, die muss erst noch aufgebaut werden, um der Macht Bolsonaros etwas entgegenzusetzen. Man darf nicht vergessen, dass in Brasilien ein Parlament gewählt wurde, das mehrheitlich im Gegensatz zur kommenden Präsidialregierung steht. Gerade deshalb ist die soziale Mobilisierung entscheidend. Das haben anscheinend jetzt sowohl die PT, die Linke allgemein und die sozialen Bewegungen verstanden.
Danach wäre es wichtig, das Parlament für wichtige Themen wie die Arbeitsreform und Rentenreform zu gewinnen. Gleichzeitig muss die Regierung zu den vorherigen Sozialprogrammen wie die Hunger- und Armutsbekämpfung zurückkehren, die können nicht länger warten. Dann kann sie schrittweise so schwierige Themen wie Agrar- und Steuerreform, die Entprivatisierung und die Stärkung staatlicher Unternehmen angehen.
Erforderlich sind mehr Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wissenschaft; die Förderung der Agrarökologie, der Solidarwirtschaft und der Entwicklungskredite sowie eine multilaterale Außenpolitik.
Mehr politische Partizipation und mehr Demokratie ist vielleicht gerade das, was den Unterschied zur gegenwärtigen Situation ausmachen kann, um aus der autoritären Ära herauszukommen. Damit hat die PT ja traditionell gute Erfahrungen gemacht, sei es durch den weltweit bekannten Beteiligungshaushalt, sei es durch die vielen Foren, Räte und Entscheidungskommissionen, die im Wahlkampf angesprochen wurden und auf große Zustimmung in der Gesellschaft stoßen. Die PT hatte niemals eine Mehrheit in den Parlamenten, und es ist wieder Zeit, aus der eigenen Parteigeschichte zu lernen, was sie so erfolgreich gemacht hat, und nicht die Fehler zu wiederholen, die sie schwächten, nämlich die Reduzierung auf parlamentarische Bündnisse ohne eine entsprechende Mobilisierung der Gesellschaft.
Es gab in den vorherigen Amtsperioden der PT so wichtige Erfahrungen wie das Programm Fome Zero (Null Hunger), das Schulspeisungsprogramm, den Ankauf von Lebensmitteln direkt von den Kleinbauernorganisationen vor Ort, eine Vermarktungsgarantie und Mindestpreise für die bäuerliche Produktion, staatliche Investitionen in die Infrastruktur auf dem Land, mehr und sozial angepasste Agrarberatung, Unterstützung bei der Verarbeitung und Vermarktung regional und genossenschaftlich erzeugter Produkte, Umschuldungsverhandlungen für Kleinbauern, eine Versicherung gegenüber Ernteverlusten und die Bereitstellung von Krediten für spezielle Gruppen wie Landfrauen und -jugendliche, sowie die ökologische Landwirtschaft. Diese Erfahrungen zeigen, dass es möglich ist, die Verhältnisse zu ändern. Brasilien war zwischen 2014 und 2018 nicht mehr in der Welthungertabelle der UNO vertreten.

Kann eine Regierung Lula zur Förderung neuer Kräfteverhältnisse in ganz Lateinamerika beitragen?

Auch wenn es derzeit in Lateinamerika Regierungen gibt, die anders oder besser sind als vorher, fehlt die notwendige permanente Mobilisierung zur Veränderung. Es kann schon frustrieren, wenn man sieht, wie konservativ diese Gesellschaften im Grunde noch sind. Die Wahl von Lula hat aber sicher einen großen Einfluss auf die Nachbarländer wie auch auf die anderen Ländern dieser Welt, die ähnliche Entwicklungen durchmachen und mit dem Erstarken der extremen Rechten konfrontiert sind.

Was erwartest du von den USA und der EU?

Dass sie keine Putschversuche dulden und entschieden zur Anerkennung des gewählten Präsidenten sowie zur Stärkung von Demokratie und Menschenrechten beitragen. Dazu gehört auch die Ablehnung eines Freihandelsabkommens der EU mit dem Mercosur in der Form, wie es bisher vorgesehen ist. Denn es geht dabei um die Wiederholung und Vertiefung asymmetrischer, ungerechter sowie umwelt- und klimaschädlicher Handelsbeziehungen zu Lateinamerika, die auf Deindustrialisierung, wirtschaftlicher Abhängigkeit und einer Ausplünderung von Naturressourcen basieren.
Man hätte verhindern können, dass die Agrarwirtschaft die Umwelt weiter zerstört, wenn man nicht weiter billige Rohstoffe importiert hätte. Es hat aber nicht nur die Mehrheit der brasilianischen, sondern auch die der meisten US-amerikanischen, europäischen und deutschen Großunternehmen und Banken aus kurzsichtigem Profitinteresse die Regierung Bolsonaro unterstützt. Das ist typisch für die Doppelmoral der sog. Industrieländer. Die große Macht der weltweiten Agrarindustrie muss gebrochen werden – das ist eine internationale Aufgabe.

Das Interview führte Hermann ­Dierkes.

Print Friendly, PDF & Email
Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.