Wolodymyr Ischtschenko wirft mehr Fragen auf als er Antworten gibt
von Renate Hürtgen
In der SoZ 12/2022 ist der Artikel von einem ukrainischen Autor erschienen, Wolodymyr Ischtschenko, Soziologe und Mitgründer der linken ukrainischen Zeitschrift Commons, den wir als wichtigen Beitrag einer notwendigen Debatte mit unseren ukrainischen und russischen Kolleg*innen und Freund*innen betrachten sollten.
„Der Krieg in der Ukraine ist ein Klassenkrieg“, hat Wolodymyr Ischtschenko seinen Artikel überschrieben. Er wird mit Recht auf großes Interesse stoßen, denn Ischtschenko verspricht, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine aus der Interessenlage der herrschenden Klasse in Russland zu erklären, die ihre Macht auf diese kriegerische Weise sichern wolle. „In der Öffentlichkeit“, schreibt Ischtschenko, „versucht der Kreml, den Krieg als einen Kampf ums Überleben Russlands als souveräne Nation darzustellen. Tatsächlich jedoch geht es ums Überleben der russischen herrschenden Klasse und ihres Modells des politischen Kapitalismus“.1 Es ist der Redaktion der SoZ nur zu zustimmen, wenn sie einleitend schreibt, dass wir die materiellen Interessen der herrschenden Klasse verstehen müssen, wenn wir zu einem „kohärenten Bild von den Wurzeln des Krieges“ gelangen wollen.
Ischtschenko leitet seinen Beitrag mit einer Kritik an der herkömmlichen Imperialismustheorie ein, die er als Analysekonzept für den Charakter Russlands verwirft. Dieses Konzept sei überholt und auf Russland nicht anwendbar, denn dessen Expansionsdrang würde permanent erfolgreich eingeschränkt oder führe nicht zu einer tatsächlichen Modernisierung. Zum Beweis führt Ischtschenko die westlichen Sanktionen gegen Russlands Wirtschaft und die fehlenden wirtschaftlichen Ressourcen an, welche es beispielsweise überhaupt nicht zuließen, die ukrainischen Mineralvorkommen für den eigenen Bedarf „heben“ zu können.2 Weil Russlands Expansionsdrang nach Maßgabe einer kapitalistischen Wirtschaft im Aufschwung nicht erfolgreich wäre, könne man den derzeitigen russischen Staat auch nicht als imperialistisch bezeichnen. Das ist eine sehr eigenwillige Definition, die den Verdacht aufkommen lässt, Russland als imperialistischen Staat zu bezeichnen, könne Ischtschenkos Konstrukt von den Ursachen des Krieges stören. Und tatsächlich erfahren wir, dass er sich voll und ganz auf die ökonomischen Interessen der Herrschenden konzentrieren will, auf die für ihn „rationalen“; die politischen und ideologischen, die außer ökonomischen Interessen Putins scheinen Ischtschenko für seine Analyse vernachlässigbar. Die Ursachen des Angriffskrieges sind demnach in der ökonomischen, der „rationalen“ Herrschaftssicherung zu finden: „Mit dem Krieg in der Ukraine schützt er (Putin, R.H.) die rationalen kollektiven Interessen der russischen herrschenden Klasse.“3
Für seine Klassenanalyse übernimmt Wolodymyr Ischtschenko die Idee vom „politischen Kapitalismus“ des ungarischen Soziologen Iván Szelényi und definiert die Mitglieder der herrschenden Klasse in Russland folgerichtig als „politische Kapitalisten“. Darunter versteht er jene kapitalistischen Unternehmer, die von einem dominierenden Staat und seinen selektiven Leistungen abhängig sind. Sie seien eng mit dem staatlichen System verflochten, stellten zum Teil selber die Funktionselite, Korruption gehöre endemisch zu diesem Typ von Kapitalismus, Modernisierung und Professionalisierung der Wirtschaft blieben aus. Die Profitrate der politischen Klasse Russlands würde sinken und es gebe nur zwei Wege, wie die „politischen Kapitalisten“ überleben könnten: „Man muss sich in ein anderes (das liberale) kapitalistische Modell verwandeln, um die Profitrate aufrechtzuerhalten – entweder durch Kapitalinvestition oder verstärkte Arbeitsausbeutung. Oder man muss expandieren, um mehr Quellen für die Gewinnung von „Insiderrenten“4 zu erschließen.“5 Der Krieg Russlands um die ukrainischen Gebiete – so verstehe ich Ischtschenko – sei genau so ein Versuch der Gebietserweiterung, um das Überleben des russischen politischen Kapitalismus im globalen Wettbewerb zu sichern.
Ungeachtet dieser auffälligen Verkürzung der russischen Herrschafts- und Machtverhältnisse auf ihre „unternehmerischen“ Interessen, zeichnet Ischtschenko ein interessantes und aufschlussreiches Bild von einer gespaltenen herrschenden Klasse Russlands, mit dem der Blick auf bisher wenig behandelte Aspekte erweitert wird. In den „politischen Kapitalisten“ erkennen wir unzweideutig jene Oligarchen und Funktionsträger wieder, die ihre Pfründe aus der unbedingten Loyalität gegenüber dem Staat respektive Putin erlangen und die auf dem Weltmarkt nur bestehen könnten, weil ihnen ihre enge personelle Interessenverflechtung mit dem Staat enorme Wettbewerbsvorteile bringt. Ihre Gewinne zögen sie aus Korruption und rechtlichen Schlupflöchern. Der Staat schütze im Gegenzug die politischen Kapitalisten vor der „Einmischung von außen“, sorge für eine gut ausgebildete und über sozialstaatliche Einrichtungen abgesicherte Arbeitskraft, was die Löhne niedrig halten und dieser Kapitalistenklasse auf diese Weise bedeutende „Insiderrenten“ verschaffen würde. Gäbe es diesen geschützten Raum nicht, müsse das ganze System untergehen. Das ist für Ischtschenko der entscheidende Grund dafür, dass Putin räuberische Expansionen betreibt oder Integrationsprojekte wie eine Eurasische Wirtschaftsunion anstrebt, um damit die geschützten Räume für die politischen Kapitalisten zu erweitern, in denen sie mit Hilfe des Staates ungestört ihre Profite realisieren können.
Aber da sind ja noch die anderen Herrschenden, die im gegenwärtigen Russland wohl keine Mehrheit, aber infolge Putins „bonapartistischer Stabilisierung“ der Wirtschaft einen Aufschwung erfahren hätten. Ischtschenko bezeichnet sie als vom System des politischen Kapitalismus und damit von den Vorteilen staatlicher Obhut ausgeschlossene Eliten, deren einzige Chance auf Karriere darin bestünde, sich dem Westen zuzuwenden und ihre politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen in den „richtigen Kapitalismus“ zu intensivieren. Hegemonial hätte diese „Vorhut westlicher Soft Power“ nach Ischtschenko im postsowjetischen Raum bisher nicht werden können. Wenn diese „transnationalen Kapitalisten“ und die „professionellen Mittelschichten (…), politisch vertreten durch prowestliche, nichtstaatliche Zivilgesellschaften“ jedoch eine Allianz bildeten, stellten sie eine Gefahr für das System des politischen Kapitalismus dar: Sie würden mit ihren westlichen Werten die Grundpfeiler des „politischen Kapitalismus“ zerstören, mit ihren „Antikorruptionsinstitutionen“ den Staat schwächen und die lokalen politischen Kapitalisten ihres Wettbewerbsvorteils berauben. Solche widersprüchlichen Interessen seien es gewesen, die den Grundstein für jenen Konflikt gelegt hätten, „aus dem schließlich der aktuelle Krieg hervorgegangen war.“6
Wolodymyr Ischtschenkos liefert – das sollte bis hierher klar geworden sein – keine konkrete historische Analyse des gegenwärtigen russischen Kapitalismus, er entwirft ein Modell des „politischen Kapitalismus“ und illustriert es mit Beispielen. Dieses Modell sei nicht nur auf Russland, sondern auf alle postsowjetischen Länder anwendbar, was ihn dazu verführt, Belegbeispiele aus anderen politischen kapitalistischen Ländern anzuführen, bevorzugt aus der Ukraine. Dies nicht exakt zu trennen und sich treffender Beispiele aus anderen Ländern zu bedienen, um die Situation in Russland zu erklären, ist methodisch unsauber und führt zunächst zu Irritationen. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass diese Methode zum theoretischen Konzept des Autors gehört, das darin besteht, modellhaft den Herrschaftscharakter für alle postsowjetischen Länder zu entwerfen.
Damit hat sich Ischtschenko der Aufgabe erledigt, das Agieren der herrschenden Klassen in den verschiedenen postsowjetischen Ländern konkret zu untersuchen, was sich im weiteren als ein gravierender Fehler erweisen soll. Fragen nach den historischen, politischen und kulturellen Besonderheiten der derzeitigen Herrschaftsverhältnisse in Russland werden von ihm somit auch nicht gestellt gestellt; eine Auseinandersetzung mit dem hochgradig imperialen und revanchistischen Charakter des russischen Staates lehnt Ischtschenko ja ohnehin ab. Die Rolle des Staates, die Rolle Putins, der Charakter des ganzen politischen Regimes werden ausgeblendet und auf die vermeintliche Interessenvertretung der „politischen Kapitalisten“ in ökonomistischer Weise reduziert. Putins Eigen-Anteil an einer Politik und Ideologie, die faschistische Tendenzen aufweist, die permanent aggressive Großmachtphantasien produziert, die ständig historische „Beweise“ für die Rechtmäßigkeit von Landnahmen erbringt und die schließlich am 24. Februar 2022 in einem gegen die Ukraine gerichteten Vernichtungskrieg mündete, hat keinen Platz in dieser Analyse. So anregend sich sein ökonomisches Modell des Kampfes der Herrschenden, namentlich zwischen Ost und West, zunächst liest, die spezifischen Ursachen und Anlässe dieses Krieges kann es nicht erklären.
„Der Krieg in der Ukraine ist ein Klassenkrieg“ hat Wolodymyr Ischtschenko seinen Text betitelt. Was er uns jedoch dann beschreibt, ist nicht der Krieg der herrschenden gegen die unterdrückten Klassen, – weder in den postsowjetischen noch in den westlichen Ländern – sondern den Kampf der verschiedenen Klassenfraktionen der Herrschenden, um die best möglichsten Bedingungen für ihre Profitmaximierung. Der Konkurrenzkampf der Kapitalisten auf dem Weltmarkt ein Klassenkampf? Eine solche abwegige Bestimmung von „Klassenkampf“ hätte eigentlich jeden Redakteur und jede Redakteurin einer linken Zeitung aufhorchen lassen müssen.
Von dieser seiner These ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Annahme, der Krieg in der Ukraine sei ein Krieg des Westens gegen den Osten oder, wie es Ischtschenko in Abwandlung dieses verbreiteten Diktums formulieren würde, ein Expansionskrieg der „transnationalen Kapitale“ und ihrer Handlanger, der „professionellen Mittelschichten“, gegen das System des politischen Kapitalismus in Russland. Er ist mit einer solchen Auffassung beileibe nicht allein, sie gehört inzwischen zum Standard von vielen linken geopolitischen Analysten des russischen Angriffskrieges. Und wie sie sieht er in den nach Westen orientierten Ukrainer*innen sowie den nach westlichem Vorbild in der Ukraine entstandenen zivilgesellschaftlichen Institutionen und NGOs vor allem subjektlose Marionetten im ökonomischen Vernichtungskampf des Westen gegen die „politischen Kapitalisten“ des Ostens. Wiederholt bezieht sich Ischtschenko in seinem Artikel auf die „Antikorruptionsinstitutionen“, die er als eine existenzielle Bedrohung für das postsowjetische Kapital (in der Ukraine?) denunziert. In dieser Logik wären dann wohl auch, die Antikorruptionsinitiativen wie LobbyControl lediglich Agenturen des transnationalen Kapitals im Klassenkampf gegen das Putin-Regime?
Mit dieser und anderen Varianten vom Charakter des Krieges in der Ukraine als „Stellvertreterkrieg“ sollten wir uns in unserer gemeinsamen Debatte ernsthaft und kritisch auseinandersetzen. Es stellen sich dabei für mich insbesondere zwei Probleme. Unbenommen ist es, dass auch dieser Krieg, seine Ursachen und sein Charakter, nicht ohne seinen Stellenwert im globalen Konkurrenzkampf um Einflusssphären begriffen werden kann, bei dem namentlich die USA ihre Vormachtstellung wieder geltend macht. Dass die Rolle der USA, aber auch die Europas oder Deutschlands dabei sehr genau und differenziert danach untersucht werden muss, welche Interessen sie an diesem aktuellen Kriegsgeschehen in der Ukraine haben und mit welchen Zielen sie es unterstützen, scheint mir für eine seriöse geopolitische Analyse ohnehin zwingend. Doch der besondere Charakter dieses Krieges erschließt sich auf diese Weise nicht. Eine ausführliche Beschreibungen der globalen politischen und ökonomischen Konstellationen in einigen geopolitischen Abhandlungen ersetzt nicht die genaue Kenntnis über die politische, soziale, ideologische und ökonomische Lage in Russland selbst, des Angreifers, der mit seinen imperialen Zielen den Charakter des Krieges bestimmt und dessen „innere Lage“ maßgeblichen Anteil am Zustandekommen dieses Krieges hat. In einer linken Debatte muss nach meinem Verständnis Russlands Zustand und Putins aggressives revanchistisches Handeln einen hervorragenden Platz einnehmen, um den spezifischen Charakter dieses Krieges zu begreifen, der ihn von anderen imperialen Kriegen unterscheidet.
Mit der Charakterisierung dieses Krieges als „Stellvertreterkrieg“ verbindet sich darüber hinaus noch eine zweite, für unsere Debatte zentrale Frage, die nach der Rolle der Ukraine. Mit der Einschätzung, dass die westliche Welt, namentlich die USA, das Geschehen dort vor und im Krieg bestimmt haben, und dass sich der Verteidigungskrieg der Ukrainer*innen bei näherer Betrachtung als Kampffeld des Westens gegen den Osten erweisen würde, verschwindet die Ukraine als eigenständiges „Subjekt“ von der Weltbühne. Ukrainische Regierung wie Bevölkerung sind nach dieser Lesart ein Spielball der Großmächte, bloße Agenturen des Westens. Wolodymyr Ischtschenko geht da sehr weit, wenn er alles, was sich in der Ukraine an zivilgesellschaftlichen Bewegungen seit den, wie er sagt, „sog. Maidan-Revolutionen“, entwickelt hat, als „westliche Expansion“ brandmarkt, darunter auch die schon zitierten Antikorruptionskampagnen. Aufschlussreich für sein Denken ist dabei, dass er in seinem Artikel kurz auf die „tief verwurzelte(n), sozialistische(n) Mentalität der ´rückständigen` plebejischen Massen“ als Basis der russischen politischen Klasse verweist, für die nach Westen orientierten Eliten jedoch keine solche Basis ausmacht.7 Mit anderen Worten: dass es „Schnittmengen“ der Interessen dieser „Eliten“ mit den Interessen von Teilen der Bevölkerung in postsowjetischen Ländern an einer „Verwestlichung“ ihres Lebens gibt und dass ein inzwischen immer größerer Teil der ukrainischen Bevölkerung lieber zum Westen als zu Russland „gehören will“, wird in solchen Konzept ignoriert oder eben als Werk namentlich us-amerikanischer Fremdsteuerung gewertet.
Es ist für eine antikapitalistische Linke bitter, seit 30 Jahren mit ansehen zu müssen, dass sich Millionen von Menschen in den postsowjetischen und den Ländern des sogenannten Ostblocks nach ihrer Befreiung von der sowjetischen Diktatur dem Westen zuwenden und alle Anstrengungen darauf richten, so leben und arbeiten zu können wie die Menschen dort. Aber es ist auch ein Armutszeugnis für jene Linke, die sich diese Hoffnungen nur mit der Dummheit der Massen – „Die wissen gar nicht, was sie erwartet!“ – oder dem aggressiven Einfluss des Westens erklären können. Es kann gefährlich für eine solche Linke werden, wenn sie sich nicht tatsächlich mit der Frage beschäftigen will, was an diesem Begehren in den Entwicklungen dieser Länder selbst wurzelt oder warum sich beispielsweise auf dem Maidan von der Eurasischen Wirtschaftsunion weg und der Europäischen Union zugewandt wurde. Gefährlich für Linke, weil sie sich auf diese Weise aus dem so wichtigen Prozess der Entstehung einer kritischen Zivilgesellschaft und betrieblichen wie gewerkschaftlichen Opposition selber ausschaltet.
Wolodymyr Ischtschenko verschwendet allerdings keinen Gedanken darauf, welchen Einfluss eine Linke nach dem Krieg in der Ukraine nehmen könnte. Dafür entwickelt er für Russland ein sehr konstruiert erscheinendes Nachkriegsszenario, in dem sich das Land weiter vom Westen abkoppeln, seine Herrschaft konsolidieren und zu einem autoritär politischen System nach dem Vorbild Chinas werden würde. Dies scheinen ihm anschließend gute Voraussetzungen für die Entstehung einer organisierten politischen Massenopposition, welche für eine „neue sozialrevolutionäre Welle sorgen“ könnte, wie sie noch kein postsowjetisches Land gesehen habe.8 Das sind, wie ich versucht habe zu benennen, nicht die einzigen Gedanken aus dem Artikel von Wolodymyr Ischtschenkos, die Widerspruch hervorrufen und unbedingt Teil unserer solidarisch-kritischen Debatte sein sollten.
Anmerkungen:
1Der Krieg in der Ukraine ist ein Klassenkrieg. Dabei geht es um das Überleben der russischen herrschenden Klasse und ihres Modells des politischen Kapitalismus, sagt Wolodymyr Ischtschenko, in SoZ 12/Dezember 2022, S.19
2 S.18
3 S.18
4 Diesen Begriff übernimmt Ischtschenko von Ruslan Dsarassow, der darunter die rentenähnlichen Einkünfte versteht, die von Insidern dank ihrer Beziehungen zu den Machthabern erzielt werden.
5 S.18
6 S.19
7 S.18/19
8 S.19
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