Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2023

Die Leiharbeiter:innen haben eine großen Erfolg errungen
von Violetta Bock

Ein bahnbrechendes Urteil am Europäischen Gerichtshof könnte endlich der krassen Ausbeutung durch Leiharbeit einen Riegel vorschieben. Demnach dürfen Leiharbeiter:innen nicht schlechter gestellt sein als Stammbeschäftigte im Sinne des Gesamtschutzes.

Deutschland hat einen der größten Niedriglohnsektoren in Euopa. Fast 20 Prozent aller Beschäftigten sind trotz Vollzeitarbeit Geringverdiener:innen. Einen großen Anteil daran hat die Leiharbeit, bei der man im Schnitt ein Drittel weniger verdient als Stammbeschäftigte. Dort sind es laut einer Studie des WSI sogar 67,9 Prozent. Zwei Fünftel von ihnen haben eine nicht deutsche Staatsangehörigkeit.
Nicht zu Unrecht wird Leiharbeit oft als modernes Sklavenhaltersystem bezeichnet, das weder ausreichende finanzielle noch sonstige Absicherung bietet, sondern im Betrieb zu Spaltung führt. Es gibt zwar einzelne Tarifverträge, wie in der Pflege, bei denen der Lohn in der Leiharbeit höher ist, in den meisten sind es jedoch bis zu 30 Prozent weniger Bezahlung.
Entsprechend schwierig ist die gewerkschaftliche Organisierung. Etwas Hoffnung gab es, als auf europäischer Ebene das Prinzip Equal Pay festgelegt wurde. In anderen Ländern wird dies umgesetzt, in Frankreich gibt es etwa für Leiharbeiter:innen ein Zuschlag von 10 Prozent gegenüber dem Stammarbeiter, weil der Leiharbeiter sich ja immer wieder auf neue Anforderungen einstellen muss.
Nur in Deutschland wird das seit Jahren ignoriert. Ermöglicht wurde dies, weil Equal Pay nur dann gilt, wenn nichts anderes durch Tarifverträge geregelt ist. Und so hatte eine Branche mit 800000 Beschäftigten plötzlich einen Anreiz, Tarifverträge abzuschließen, mit gelben Gewerkschaften, aber auch mit DGB-Gewerkschaften. Die Leiharbeit ist die einzige Branche, in der alle acht Mitgliedsgewerkschaften als DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit Tarifverhandlungen führen.
In diesen wurde für die Entgeltgruppen 1 bis 2b eine Bezahlung um die 12,50 Euro geregelt, und ab dem 1.April ein Stundenlohn zwischen 13 und 13,50 Euro, um »den Abstand zum gesetzlichen Mindestlohn zu erhöhen«. Für alle anderen Tarifgruppen finden die Tarifverhandlungen im neuen Jahr statt. Ebenfalls im Tarifvertrag geregelt sind Jahressonderzahlungen für Gewerkschaftsmitglieder (im Jahr etwa 500 Euro). Sie schützen jedoch nicht vor Armut, sondern dienen eher dazu, Mitglieder für eine Gewerkschaft zu gewinnen, die ihr Hauptaugenmerk nach wie auf die Stammbeschäftigten legt und dies durch Tarifverträge verfestigt.

Deutschland muss nacharbeiten
2017 nahmen sich daher der renommierte Arbeitsrechtsanwalt Wolfgang Däubler und LabourNet Germany der Ungerechtigkeit an, um auf gerichtlichem Weg Equal Pay und Equal Treatment (gleicher Lohn und gleiche Behandlung) durchzusetzen. Durch Sendezeit und einen Aufruf in der Satiresendung Die Anstalt fanden sie klagebereite Leiharbeiter:innen.
Fünf Jahre später, am 15.Dezember, gab es nun endlich ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Dieses sagt in aller Deutlichkeit: Tarifverträge, die Leiharbeiter:innen schlechter stellen, sind unwirksam. Für abweichenden Lohn oder Arbeitsbedingungen muss es eine Kompensation geben, so dass insgesamt die Gleichbehandlung sicher gestellt ist.
Dieser sog. Gesamtschutz hat in Deutschland bislang keine Rolle gespielt. Geregelt ist per Gesetz etwa die Bezahlung in verleihfreien Tagen. Das Urteil betrifft jedoch nur tarifvertragliche Regelungen, wie etwa eine Kündigungsfrist von lediglich zwei Tagen in den ersten sechs Monaten. Wenn gerade kein Auftrag da ist, kann hier einfach vor die Tür gesetzt werden. Auch hier müsste es nun eine Kompensation geben.
Im Interview mit Radio Dreyeckland nennt Prof. Däubler als Beispiel für einen Ausgleich mehr bezahlte Urlaubstage, etwa ein oder zwei Wochen. Schließlich ist Leiharbeit anstrengender, ständig Eingewöhnung an neue Arbeitsplätze, Orte, permanente Einarbeitung.
Auf das Urteil müssten nun entweder der Gesetzgeber oder die Tarifparteien reagieren. Die Klage geht zurück ans Bundesarbeitsgericht, fest steht aber bereits: Ein Tarifvertrag ohne Kompensation ist unzulässig. Die Lohndifferenz könnten auch alle einzeln einklagen, doch ist dies eher unwahrscheinlich.
Wahrscheinlicher ist, dass die Sozialversicherungsträger als Instanz mit öffentlichem Interesse die fehlenden Beträge beim Arbeitgeber durchsetzen.

Keine Tricks!
Dieses Urteil ist ein großer Erfolg. Es könnte sogar zu weniger Leiharbeit und mehr fester Beschäftigung führen. Da es als Einsparinstrument nicht mehr so attraktiv ist, könnte Leiharbeit laut Däubler auf die Situationen im Betrieb beschränkt werden, wo man sie wirklich braucht, etwa wegen plötzlichem Personalausfall oder wegen Spitzen in der Auftragslage. Bis dahin wird es jedoch dauern.
Und es wäre nicht das erste Mal, das mit irgendwelchen Tricks versucht wird, so ein Urteil auszuhebeln. So lässt sich Florian Swyter vom Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister im SWR mit den Worten zitieren: »Jetzt ist es am Bundesarbeitsgericht, sich schützend vor die Tarifautonomie zu stellen.« Lässt sich hoffen, dass sich die DGB-Gewerkschaften nun klar an die Seite der Leiharbeiter:innen stellen und die Gelegenheit nutzen.
An dieser Stelle daher einfach mal Danke an LabourNet Germany, Prof. Däubler und die vielen Leiharbeite­r:innen, die bereit waren für sich und damit auch für andere zu kämpfen. Für weitere Informationen sei Die Anstalt vom 20.12. empfohlen.

Teile diesen Beitrag:
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen

Spenden

Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF


Schnupperausgabe

Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.