Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2023

Feministinnen aber fordern von der Regierung ein Gesetz gegen häusliche Gewalt
Gespräch mit Walerija Kowalischina

Walerija Kowalischina ist 40 Jahre alt und stammt aus Donezk. Sie zog in den 2000er Jahren nach Russland, weil in der Ukraine keine Arbeit zu bekommen war. Sie lebte dann 20 Jahre in Russland, bevor sie in diesem Herbst mit einem humanitären Visum nach Deutschland kam.
Sie ist ein führendes Mitglied der Russischen Sozialistischen Bewegung (RSD).

Wie ist die Stimmung nach der Teilmobilmachung? Sind die Leute zornig, sind sie verängstigt?

Mir liegen keine vertrauenswürdigen Ergebnisse soziologischer Umfragen vor. Ich kann also nur auf der Grundlage der Menschen in meinem Umfeld und der Informationen urteilen, die ich im Internet gefunden habe.
Die Menschen fühlen sich durchweg ohnmächtig, wie schon immer – das ist es auch, was Putin all die Jahre geholfen hat, an der Macht zu bleiben. Die Leute denken, sie können nichts tun, die Ereignisse überrollen sie und sie müssen damit leben. Einige setzen sich zur Wehr, viele Medienschaffende haben Russland verlassen.
Bei den Männern nimmt der Unwille zu kämpfen verschiedene Formen an: einige fliehen aus dem Land, andere verstecken sich vor der Mobilisierung, wieder andere preisen sich in ihrem Unternehmen als wertvolle Fachkraft an.
Proteste von Frauen fanden in jenen, meist armen Regionen statt, in denen schon vor der Mobilisierung ein überproportionaler Anteil der männlichen Bevölkerung an militärischen Einsätzen beteiligt war. Derzeit protestieren Frauen, Familien, Mütter gegen die schlechten Bedingungen in der Armee. Die Soldaten haben keine Winterkleidung, sie tragen noch die Ausrüstungen und die Kalaschnikows aus dem Zweiten Weltkrieg, schlafen auf dem Feld, müssen ihr Essen selber bezahlen…
Für die allermeisten ist Politik tabu. Als im Februar der Krieg losging, haben wir gedacht: Wenn die Regierung kommt und dir deinen Mann, Vater oder Bruder wegnimmt und in den Krieg schickt, dann müsste die Gesellschaft doch aufwachen. Aber nein, es waren nur noch mehr Menschen enttäuscht und frustriert und es hat sich ein Gefühl der Hilflosigkeit breit gemacht. Die Leute unterstützen den Krieg nicht, sie glauben nicht, dass er in ihrem Interesse ist, aber sie wissen nicht, wie sie dem entgegentreten können.
Sie sind es einfach nicht gewohnt, Nein zu sagen. Wenn die Regierung sagt, es muss sein, dann muss es wohl sein. Sie hat mir eine Ausbildung gegeben, wenn sie jetzt meint, ich muss ihr was zurückzahlen, dann sei es so. Schließlich bin ich ein Mann. Es ist meine Pflicht, fürs Vaterland zu sterben. Der Mangel an Politisierung geht so weit, dass Menschen eher sterben, als für ihre Interessen zu kämpfen.

Du bist aktiv in der russischen feministischen Antikriegsbewegung. Kannst du darüber etwas erzählen?

Meine erste politische Aktivität war die Mitarbeit in einer unabhängigen Organisation zur Überwachung der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2012. Damals gab es landesweit Proteste gegen die gefälschten Ergebnisse. Bei diesen Protesten lernte ich linke Aktivisten und linke Feministinnen kennen. Später trat ich der Russischen Sozialistischen Bewegung bei und war Mitglied feministischer Gruppen in St.Petersburg, wo ich verschiedene Bildungsveranstaltungen organisierte: Diskussionen, Sommerlager, Inhalte für soziale Netzwerke, Straßenproteste. Wie viele Aktivistinnen wollte ich erreichen, dass Frauen die Notwendigkeit einer systematischen Beteiligung an der Politik erkennen.

Was waren damals die Hauptforderungen der feministischen Bewegung?

Da war zuerst die Forderung, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu beschließen. Die Bewegung hat versucht, Frauen zu helfen. Ein Gesetz dagegen lag schon in den 90er Jahren dem Parlament vor, aber es wurde immer wieder hinausgeschoben, auch in den 2000er und 2010er Jahren – vor allem auf Druck der Kirche. So kam es zu öffentlichen Aktionen und einer direkten Ansprache der Regierung, dass ein solches Gesetz dringend nötig sei. Denn in Russland haben wir ein Problem, da wird gesagt: Wenn er dich schlägt, liebt er dich. So wurden kleine Videos gedreht und online gestellt um zu zeigen: Nein, wenn er dich schlägt, liebt er dich nicht.
Wir brauchen ein Gesetz gegen häusliche Gewalt, aber die Männer an der Regierung wollen es nicht, weil sie selber Frauen schlecht behandeln und solche Verhaltensweisen decken. Bei der Regierung gibt es sogar eine Ethikkommission, aber die ist nicht besser. Ein Regierungsmitglied hat einmal während eines Interviews eine weibliche Journalistin begrapscht. Sie hat das öffentlich gemacht, aber der Mann hat alles geleugnet und die Ethikkommission auch.
Linke, sozialistische Feministinnen haben auch die Frage nach bezahlter Sorgearbeit aufgeworfen. In Russland bleiben nur sehr wenige Männer nach der Geburt eines Kindes zu Hause, es fehlen Kindergärten. Die Regierung baut in St.Petersburg z.B. Hochhäuser mit 30, 40 Stockwerken, aber ohne jede soziale Infrastruktur. In der Zeit war es in den russischen Medien und in der Musik gängig, dass Frauen als Objekt hingestellt wurden. Die Feministinnen gingen dagegen vor. Sie traten auch dafür ein, dass Frauen erwerbstätig sein und selbständig davon leben können, damit sie sich persönlich entfalten können.

Hat sich die Lage der Frauen seit den 90er Jahren verschlechtert?

Für die Mehrheit der Frauen in Russland sicherlich. Die wirtschaftliche Lage hat sich sehr verschlechtert, frühere Wirtschaftsbeziehungen wurden aufgelöst, die großen Fabriken zerstört. Das hat die Männer belastet, die Frauen aber zwei- und dreimal sosehr. Sie mussten mehrere Jobs annehmen, um wenigstens zu etwas Geld zu kommen, oder schauen, wie sie auch ohne Arbeit überleben können.
Die Familie als Institution ist bereits in den 70er Jahren in die Krise geraten. Vorher mussten die Menschen zusammenbleiben, um zu überleben, allein geht das sehr schlecht, besonders als Frau. Danach aber verdienten sie gut, dasselbe wie die Männer, und die Männer hatten das Gefühl, eine Position verloren zu haben, und fanden sich in ihrer neuen Lage nicht zurecht. Der Anteil von Männern, die sich scheiden lassen und ihre Familie verlassen, ist sehr hoch. Für die Frauen bedeutete das, dass sie nun die Last der Kinderversorgung und der Hauswirtschaft allein tragen mussten.
Frauen in Russland wenden 40 Prozent mehr Zeit auf häusliche Tätigkeiten auf als Männer. Und am Arbeitsplatz werden sie diskriminiert. Die Bosse fragen dich, ob du verheiratet bist, ob du Kinder haben wirst, denn das bedeutet immer zusätzliche Kosten. Solche Frauen werden auch nicht befördert, denn da besteht das Risiko, dass sie jederzeit kündigen, um sich um die Kinder zu kümmern. Frauenlöhne liegen in Russland 27 Prozent unter Männerlöhnen. Deswegen sind es auch die Frauen, die nach der Geburt zu Hause bleiben. Zumal, wenn die Löhne niedrig sind. Ein Durchschnittslohn in Russland liegt bei 40000 Rubel.

Wieviel ist das in Euro?

Etwa 600 Euro, das ist aber ein Durchschnittswert, in der Provinz und in Kleinstädten ist es die Hälfte. Es gibt auch ganze Wirtschaftszweige, in denen vorwiegend Frauen beschäftigt sind und in denen deutlich schlechter bezahlt wird: Unterricht, Pflege, Kultur, Kunst gehören bspw. dazu. Im Gesundheitswesen gibt es eine vertikale Segregation, Frauen sind zu 90–95 Prozent in den Berufen anzutreffen, die alles machen; die Manager sind Männer. Schul­direktoren, Minister – überall da, wo man gesehen wird, sind Männer, die Arbeit leisten die Frauen. Sie sind, wie überall sonst auch, unterbezahlt. Als ich meine Ausbildung machte, lautete die Frage: In welchen Berufen können Frauen arbeiten? Sie lautete nicht: In welchen Berufen wollen Frauen arbeiten?

Gibt es ein Bewusstsein von der Existenz des Patriarchats?

In den letzten zehn Jahren haben feministische Ideen und die feministische Bewegung eine qualitativ andere Verbreitung gefunden. Die Saat der Älteren, die vor 15, 20 Jahren noch marginalisiert waren, als Feminist noch ein Schimpfwort war, ist aufgegangen. Später sprachen alle Mainstreammedien darüber und der Feminismus wurde populärer. Zu Beginn des 21.Jahrhunderts war die Abwehrlinie: Feministinnen sind verrückte Frauen, die keine Männer mögen und mit denen Männer nicht schlafen mögen. Das macht die Frauen zornig. Später war die Abwehrlinie: Sicher haben Frauen Rechte, aber es gibt normale Feministinnen und diese radikalen. Unsere Bewegung, die über häusliche Gewalt sprach, gehörte natürlich zu den radikalen. Aber die Reaktion war ein Zeichen dafür, dass Frauen in örtlichen Gruppen, feministischen Gruppen, Medien aktiver geworden waren und offener über feministische Ideen sprachen, ohne sie so zu nennen.
Die Kirche versucht, Abtreibung verbieten zu lassen, das Recht darauf ist eine Hinterlassenschaft der Sowjetunion. Aber sie sehen, dass dies auf Widerstand stößt, es gibt Demonstrationen darum und alle möglichen neuen Leute melden sich zu Wort. Frauen jeder Herkunft verstehen sofort, worum es hier geht: Die Regierung hat ihre Nase nicht in private Angelegenheiten zu stecken, hat in den vier Wänden nichts zu suchen. Ein Verbot der Abtreibung würde womöglich die Mobilisierung hervorrufen, auf die wir die ganze Zeit warten. So arbeitet die Regierung auch hier mit Salamitaktik: Abtreibung ist kostenlos, man kann ins Krankenhaus dafür gehen. Aber jetzt kommen sie und sagen: Nun, wenn du das willst, musst du es bezahlen. Oder sie sagen: Ja, das ist erlaubt, aber nicht in allen Fällen. Das wurde in den letzten Jahren breit diskutiert.

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