Ein vernachlässigtes Kapitel – brandaktuell
dokumentiert
Mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Papyrossa-Verlags veröffentlichen wir Auszüge aus dem Vorwort und dem Kapitel »Krisenauswege der wirtschaftlichen und politischen Eliten« von Ulrich Schneiders Buch 1933 – Der Weg ins Dritte Reich* (Zusammenstellung: Gerhard Klas).
Der 27.Januar 1933 ist der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Seit 1996 hat sich die offizielle »Erinnerungskultur« in Deutschland auf diesen Tag als nationalen Gedenktag geeinigt: Ein Blick auf die Geschichte des NS-Regimes von seinem Ende her, den Schrecken des Krieges, der Massenvernichtung in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, aber auch der Befreiung.
Der 30.Januar 1933, die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, ist hingegen bis heute Ausgangspunkt eines geschichtspolitischen Streits. Denn dieses Datum richtet den Blick auf die Ursachen und den Ursprung des NS-Regimes, die Bestandteile jeder Erinnerungsarbeit sein müssen, wenn es nicht bei einem Trauern um die Opfer ohne Konsequenzen bleiben soll. Es kommt also darauf an, die Verantwortlichen und Nutznießer zu benennen. Diese Herausforderung steht auch heute noch, wenn politische Konsequenzen für die Gegenwart gezogen werden sollen. Das gilt besonders – aber nicht nur – für die Rolle der Wirtschaft bei der Unterstützung der Nazis.
Die Frage, wie die politische Krise der Weimarer Republik zu lösen sei, wurde nicht nur im Parlament und zwischen den politischen Parteien verhandelt. Auch die ökonomischen Eliten mischten sich zunehmend in die Debatte ein. Der »Reichsverband der Deutschen Industrie« stellte klare Forderungen an die Regierung, die auf eine »Entlastung« der Unternehmen hinausliefen. Dabei ging es nicht nur um Steuern, sondern auch um den Abbau von sozialen Errungenschaften, die die Arbeiterbewegung in der Novemberrevolution und in den ersten Jahren der Weimarer Republik erkämpft hatte, und es ging um einen Umbau der Weimarer Republik im Sinne einer autoritären Herrschaft, im Interesse von langfristig günstigen Investitionsbedingungen für die Unternehmen.
In einer Denkschrift vom Juni 1931 forderte der Reichsverband, »die Wirtschaft in viel stärkerem Maße als bisher von den Fesseln zu befreien, die ihr die ungeheure Überlastung mit öffentlichen Abgaben und die falschen Methoden der früheren Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik auferlegt haben.«
Gleichzeitig wurde eine deutliche Warnung ausgesprochen, dass »eine Unentschlossenheit der Reichsregierung von der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes und von der gesamten deutschen Industrie nicht mehr verstanden« werde. Damit kündigte der Reichsverband an, falls seine Forderungen nicht angemessen berücksichtigt würden, könne man sich auch anderen politischen Kräften zuwenden. Diese Kräfte standen in Gestalt der NSDAP durchaus bereit.
Die Düsseldorfer Herrenrunde
Diese Möglichkeit erkannten Hitler und die NSDAP sehr klar. Auf Vermittlung von Fritz Thyssen, Aufsichtsratsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke AG und langjähriger Förderer der NSDAP, bekam Hitler im Januar 1932 die Gelegenheit, im angesehenen Düsseldorfer Industrie-Club vor den Spitzen der rheinischen und Ruhr-Schwerindustrie, den Vertretern von Banken und Konzernen sein Programm darzulegen. Wie groß das Interesse an der Veranstaltung war, zeigte sich an der Zahl von 650 Zuhörern.
Hitler trat hier vollkommen anders auf als bei seinen öffentlichen Wahlkampfreden. Hier bediente er nicht den platten Rassismus und die soziale Demagogie, sondern unterstrich die gemeinsame Ablehnung der Weimarer Demokratie und präsentierte ein Rasse-Konzept, das den Unternehmen die »wirtschaftlichen Vorteile« des Herrenmenschen-Denkens aufzeigte. Die Reaktionen waren sehr positiv.
Im Frühjahr 1932 schuf Wilhelm Keppler, seit 1927 Mitglied der NSDAP, mit ausgewählten Kapitalvertretern einen »Studienkreis für Wirtschaftsfragen«, der für die NSDAP Wirtschafts- und Finanzprogramme entwickeln und Kontakte zu Industriellen herstellen sollte.
Dieser »Keppler-Kreis« traf sich am 20.Juni 1932 im Hotel »Kaiserhof« in Berlin mit Hitler. Hier sprach der »Führer« der NSDAP in kleinem Kreis Klartext. Zu dem Kreis gehörte auch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, ein Zeichen dafür, dass sich in den ökonomischen Eliten bereits ab Frühjahr 1932 eine Option für Hitler und die NSDAP abzuzeichnen begann. Zahlreiche Großunternehmer unterstützten daraufhin mit erheblichen Geldsummen den Wahlkampf der NSDAP im Juli 1932.
Die NSDAP organisierte einen Wahlkampf, wie er bis zu dem Zeitpunkt noch von keiner anderen Partei geführt worden war. Selbst in kleineren Orten fanden martialische Aufmärsche von SA und SS statt, Hitler sprach pro Tag auf mehreren Kundgebungen. Als erster Politiker reiste er sogar per Flugzeug zu solchen Auftritten, was dann wieder von vielen Medien als »Sensation« und »Modernität« in der Öffentlichkeit verbreitet wurde.
Diese Kombination von »Sensation« und propagandistischer Rhetorik verfehlte ihre Wirkung auf das Wahlvolk nicht. Im Juli 1932 konnte die NSDAP die Zahl ihrer Wählerstimmen und Mandate jeweils verdoppeln. Mit über 37 Prozent der Stimmen wurde sie mit Abstand die stärkste Kraft, wobei sie sich als Sammlungsbewegung vor allem zu Lasten der kleineren wirtschaftsnahen und nationalistischen bürgerlichen Parteien erwies. Die deutliche Steigerung der Wahlbeteiligung (knapp zwei Millionen Wähler mehr) war vor allem auf die Mobilisierung von neuen Anhängern zurückzuführen.
Trotz dieses Wahlerfolgs kam im Sommer 1932 noch keine Regierungskoalition der Rechtsparteien unter Einschluss der NSDAP zustande. Als bis Mitte September 1932 im Reichstag immer noch keine Regierungsmehrheit zustande kam, löste Hindenburg den Reichstag erneut auf und setzte Neuwahlen für den 6.November 1932 an.
Die Entzauberung vor dem Putsch
Die Hoffnungen innerhalb der wirtschaftlichen und politischen Eliten in den erneuten Urnengang im November 1932 waren klar. Die auf die NSDAP orientierten Teile erwarteten, dass der enorme Stimmenzuwachs dieser Partei seit den Wahlen von 1930 bei allen Landtags- und Reichstagswahlen sich fortsetzen werde. Und selbst unabhängig von ihrer Haltung zur NSDAP gab es in diesen Kreisen insgesamt die Erwartung, dass das Wahlergebnis eine parlamentarische Legitimation für die Errichtung einer autoritären Herrschaft abgeben werde. Neben allen parlamentarischen Konstellationen gab es aber einen wachsenden Widerstand der Arbeiterorganisationen und anderer demokratischer Kräfte.
Letztlich brachten die Novemberwahlen von 1932 ein Resultat, das den Intentionen der wirtschaftlich Mächtigen in keiner Weise entsprach. Die NSDAP verlor zum ersten Mal über eine Million Wählerstimmen und 15 Prozent ihrer Mandate, die völkisch-nationalistischen bzw. rechtsliberalen Parteien (DNVP und DVP) konnten sich hingegen stabilisieren. Der Rechtsblock insgesamt war damit zwar nur unwesentlich geschwächt, aber der scheinbar »unaufhaltsame Aufstieg« Adolf Hitlers war mit diesem Wahlergebnis ins Stocken gekommen. Dramatischer aus der Sicht der reaktionären Kräfte und Wirtschaftsvertreter war jedoch die Tatsache, dass die KPD mit knapp sechs Millionen Wählerstimmen deutlich gestärkt aus diesen Wahlen hervorging. Trotz aller pseudoradikalen Rhetorik hatten sich die SA und andere NS-Organisationen in betrieblichen Kämpfen und sozialen Auseinandersetzungen als willfährige Werkzeuge für die Durchsetzung von Unternehmensinteressen erwiesen.
Als erste Reaktion auf das Wahlergebnis ordnete Reichspräsident von Hindenburg am 7.November per Notverordnung einen »politischen Burgfrieden« an und untersagt alle politischen Kundgebungen. Dieses Demonstrationsverbot wurde bis zum 2.Januar 1933 verlängert. Da sich insbesondere die Kommunisten nicht an dieses Verbot hielten, wurden schon in diesen Wochen zahlreiche ihrer Anhänger wegen Verstoßes gegen die Notverordnung in Haft genommen.
Als Reaktion auf das Wahlergebnis wandten sich auf Initiative des Keppler-Kreises noch im November 1932 über zwanzig Großindustrielle, Vertreter von Banken und Handelshäusern sowie Großagrarier in einer Eingabe an Reichspräsident Paul von Hindenburg. Ohne Hitler namentlich zu erwähnen, beschrieben sie, welchen Nutzen sie in seiner politischen Arbeit sahen: »Wir erkennen in der nationalen Bewegung, die durch unser Volk geht, den verheißungsvollen Beginn einer Zeit, die durch Überwindung des Klassengegensatzes die unerlässliche Grundlage für einen Wiederaufstieg der deutschen Wirtschaft erst schafft.«
*Ulrich Schneider: 1933 – Der Weg ins Dritte Reich. Analysen und Dokumente zur Errichtung der NS-Herrschaft. Köln: Papyrossa, 2022. 223 S., 16,90 Euro.
Ulrich Schneider ist Historiker, Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sowie Bundessprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA).
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