von Hermann Dierkes
Am Sonntag, dem 8. Januar, haben mehrere tausend Bolsonaro-Anhänger das Kongressgebäude (Sitz von Senat und Parlament), den Präsidentenpalast und das Oberste Bundesgericht in der Hauptstadt Brasilia gestürmt und grosse Verwüstungen angerichtet. Viele von ihnen hatten seit Wochen vor Kasernen und dem Generalstab kampiert – logistisch wohl versorgt – und zum Putsch des Militärs aufgefordert, um die neue Regierung Lula zu stürzen.
Das Militär hatte nichts dagegen unternommen, teilweise noch Sympathien gezeigt. Noch gegen Ende der ersten Januarwoche waren fast hundert Busladungen von Bolsonaristen in Brasilia eingetroffen. Obwohl es etliche Warnungen gab und das Internet von Aufrufen zum Sturm brummte, hatten die für die öffentliche Sicherheit zuständigen Behörden des Bundesdistrikts, der rechte Gouverneur Ibaneis Rocha sowie sein Sicherheitssekretär Torres – er war unter Bolsonaro Justizminister – nichts unternommen, um der drohenden Gefahr zu begegnen. Als der Sturm losbrach, wurden die wenigen – führungslosen – Polizeikräfte überrannt, Videos und vieles andere weisen darauf hin, dass ein Teil sogar mit den Krawallmachern sympathisierte.
Die Regierung, ihre parlamentarische Basis und die Spitzen der Justiz reagierten den ganzen Januar über konsequent und entschlossen. Lula, der sich zu dem Zeitpunkt im Hinterland von Sao Paulo aufhielt und sich um die jüngsten Hochwasserschäden kümmerte, dekretierte, dass die öffentliche Sicherheit im Bundesdistrikt zunächst bis Ende Januar dem Bund unterstellt würde und zuverlässige Polizeichefs und Mannschaften (auch aus anderen Bundesstaaten) das Heft in die Hand nehmen sollten. ”Was wollen diese Faschisten?”, rief Lula, ”wollen sie mehr Freiheit, wollen sie mehr Lebensqualität für alle, wollen sie, dass das Volk dreimal am Tag zu essen hat? Sie haben kein Programm, sie wollen nur den Putsch und nichts anderes.” Er kündigte an, gegen die Übeltäter mit aller Härte des Gesetzes vorzugehen und insbesondere ihre Organisatoren und Finanziers festzustellen und zu belangen.
Das Oberste Bundesgericht verfügte die Auflösung der Lager vor den Kasernen sowie die Amtsenthebung des Distriktgouverneurs wegen Amtsversagen und möglicher Komplizenschaft für 90 Tage. Sein Sicherheitsbeauftragter Torres hatte noch die Polizeiführung ausgewechselt, die neue sollte erst ab dem 9.1. (!) übernehmen, und setzte sich nach Florida ab, wo sich bereits sein Mentor aufhält. Inzwischen wurde Torres bei seiner Rückkehr nach Brasilien festgenommen. Verhaftet wurde auch der Chef der Militärpolizei des Bundesdistrikts.
Präsident, Bundesgericht und die Spitzen von Senat und Parlament verurteilten den Angriff in einer gemeinsamen Erklärung als verfassungswidrig, antidemokratisch und kriminell. Zahlreiche Regierungen aus aller Welt verurteilten umgehend den Angriff. Hunderte Bolsonaristen wurden festgenommen. Ihnen wird inzwischen der Prozess gemacht. Unter den Krawallmachern waren auch ein General, die frühere rechte Hand eines der vielen ”Gesundheitsminister” Bolsonaros, ein Neffe des abgewählten Präsidenten sowie bolsonaristische Mandatsträger.
Parlament und Senat sanktionierten mehrheitlich das Dekret Lulas. Lula berief sämtliche Gouverneure Brasiliens zu einer Konferenz am 9.1. ein und versicherte sich ihrer Loyalität. Zu Fuss suchte man ”Hand in Hand” die verwüsteten Gebäude auf und besichtigte die Schäden, deren Umfang noch ermittelt wird. Die politische Linke rief für Montagabend erfolgreich zu Massendemonstrationen im ganzen Land auf, um die Regierung zu verteidigen.
Auch in anderen Teilen des Landes kam es Anfang der folgenden Woche zu Blockaden und Gewalttaten von Bolsonaristen, u.a. gegen Raffinerien, die aber sämtlich scheiterten. Ob der Aufruhr noch einmal solche Ausmaße annimmt wie unmittelbar nach der Niederlage Bolsonaros am 30. Oktober, ist derzeit nicht absehbar.
Teile der dem Militär unterstehenden Präsidentenwache hatten offen mit den Stürmenden kollaboriert. Da sich der oberste Armeechef Arruda (ebenfalls ein Bolsonarist) der Anweisung Lulas widersetzte und keine Disziplinarmaßnahmen einleiten wollte, wurde er ebenfalls ausgewechselt. Bis zum 25. Januar wurde rund hundert höhere Offiziere abgelöst. Die Erstürmung nach dem Muster des Angriffs von Trump-Unterstützern in Washington ist in Brasilia kläglich gescheitert. Der Sturm auf das Kapitol hatte sich wiederholt – aber als Farce.
Für's erste hat sich der Bolsonarismus politisch stark isoliert, bleibt aber gefährlich. Die Regierung Lula ist gestärkt. In den USA wurden Stimmen laut, Bolsonaro, der sich z.Z. in Florida befindet, nach Brasilien auszuweisen. Dort erwarten ihn eine ganze Reihe von Strafverfahren.
(Stand: 25.1.23)
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