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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 01/2023

Mehr Streiktage als unter Thatcher
von Violetta Bock

Der große Showdown – Regierung will Polizei und Militär einsetzen
Die Arbeitskämpfe in Großbritannien weiten sich aus. Im November stimmten nun auch Krankenpfleger:innen beim NHS (National ­Health Service) in Schottland, ­Wales, Nordirland und England für Streiks. Sie fordern eine Lohnerhöhung von rund 17 Prozent angesichts einer Inflation von 11,1 Prozent. Die Regierung bot bis Mitte Dezember lediglich 4–5 Prozent. Seit 2010 sind die Löhne aber real um 20 Prozent gesunken, wie Forscher von London Economics berechneten.

Winter und Frühjahr dürften damit auf der Insel von Streiks geprägt sein. Die britische Innenministerin riet schon von Reisen ab, nachdem Grenzbeamte achttägige Arbeitsniederlegungen ab dem 23.Dezember für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne angekündigt hatten.
Im Gesundheitssektor treten auch Ärzte in Ausbildung und das Ambulanzpersonal in Aktion, angekündigt für den 21. und 28.Dezember. Als Streikbrecher möchte die Regierung Militär und Polizei einsetzen. 500 bis 600 Angehörige der Streitkräfte sollen einspringen, etwa um Krankenwagen zu fahren oder Grenzkontrollen zu übernehmen. Der Präsident des Polizeiverbands hat bereits reagiert und moniert, dass sie dafür weder ausgebildet sind noch Kapazitäten haben.

Sieben Millionen Menschen warten auf Behandlung
Beim NHS waren die Streiks für den 15. und 20.Dezember angekündigt. Erstmals in ihrer 106jährigen Geschichte haben die Mitglieder der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing) über einen satzungsgemäßen Streik im gesamten Land abgestimmt. Seit einer Streikrechtseinschränkung dürfen Streiks nur an den Orten stattfinden, an denen sich 50 Prozent der Mitglieder an der Abstimmung beteiligt und dann mehrheitlich für den Streik gestimmt haben. In vielen großen Krankenhäusern stimmten die Krankenschwestern für den Streik, so z.B. im St.Thomas Hospital in London – gegenüber den Houses of Parliament – sowie in der Edinburgh Royal Infirmary, im University Hospital Wales in Cardiff und im Royal Victoria Hospital in Belfast.
Hier geht es um weit mehr als um gute Arbeit, nämlich um die grundsätzliche Funktionsfähigkeit der öffentlichen Gesundheitsversorgung. In ihrer jährlichen Bewertung des Gesundheits- und Sozialwesens in England (21.Oktober 2022) beschrieb die Care Quality Commission den NHS (National Health Service) als »blockiert« und »nicht funktionsfähig«. Eine Rekordzahl von über sieben Millionen Menschen wartet auf eine Behandlung, die eigentlich vom NHS übernommen werden sollte. Diese Zahl steigt jeden Monat. Etwa 2,75 Millionen Menschen warten seit mehr als 18 Wochen und fast 400000 Menschen seit mehr als einem Jahr. Die Standards für die Krebsversorgung werden immer noch nicht erreicht. Die Zahl der Menschen, die Notaufnahmen aufsuchen, ist stabil geblieben, aber die Wartezeiten sind explodiert. Die Zahl der Patienten, die länger als zwölf Stunden warten, ist nun 88mal höher als vor drei Jahren.
Im September 2022 hat die Regierung eine Notfinanzierung in Höhe von 500 Millionen Pfund zur Vorbereitung auf den Winter angekündigt, doch bislang hat noch keine Struktur des NHS dieses Geld erhalten. Im Gegenteil, es wird eine neue Sparrunde befürchtet.
Nadhim Zahawi, einer der führenden konservativen Abgeordneten, instrumentalisierte im Interview mit der Huffington Post sogar den Krieg in der Ukraine: »Dieser Streik ist genau das, was Putin sehen will.« Der millionenschwere Vorsitzende der Konservativen Partei sagte, das ganze Land müsse eine einheitliche Front gegen den Krieg in der Ukraine bilden, streikende Arbeiterinnen und Arbeiter würden seinen Plan vereiteln. Für die Tories, die 15 bis 25 Prozentpunkte hinter der Labour Party liegen, werden die Streiks in der Tat politisch gefährlich. Laut Umfragen unterstützt mehr als die Hälfte der Bevölkerung den Streik der Krankenschwestern. Umso größer ist die Gefahr, dass die Regierung versucht, die Führung der Krankenschwesterngewerkschaft RCN (Royal College of Nursing) zu überzeugen, an informellen Verhandlungen teilzunehmen und einen schlechten Deal abzuschließen. Zu Redaktionsschluss waren die Streiks noch fest geplant.

Ein Flächenbrand
Neben dem Gesundheitswesen kämpfen weitere Berufsgruppen des öffentlichen Diensts für höhere Löhne angesichts der Inflation, 40000 ­allein bei den Bahnunternehmen und bei der Post. 70000 Gewerkschaftsmitglieder an 150 Universitäten führen ebenfalls Aktionen durch. An drei Tagen Ende November starteten auch sie den größten Streik in der Geschichte der Universitäten, um Angriffe auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Renten abzuwehren. Auch die Studierendenvereinigung erklärt sich mit dem Arbeitskampf solidarisch. Ihr Argument: Die Arbeitsbedingungen der Lehrenden haben entscheidenden Einfluss auf die Studienbedingungen der Lernenden.
Vor allem die Beschäftigten des öffentlichen Sektors haben in den letzten zwölf Jahren den Preis für die Ausgabenkürzungen der Regierung bezahlt. George Osborne war Schatzkanzler von Mai 2010 bis Juli 2016 unter der konservativen Regierung von David Cameron. Heute ist er wieder in der Downing Street als Berater tätig. Er verhängte von 2011 bis 2013 ein Einfrieren der Gehälter, gefolgt von einer Gehaltsobergrenze von einem Prozent in den folgenden vier Jahren. 2018 wurde diese aufgehoben, um 2020 erneut verhängt zu werden.
Vor allem aber hinkt der öffentliche Dienst bei den Löhnen seit Jahren deutlich hinter der Privatwirtschaft hinterher. Hier sind die Löhne in den vergangenen zwölf Jahren real um 5,5 Prozent gestiegen, während sie im öffentlichen Dienst im gleichen Zeitraum um 5,9 Prozent zurückgegangen sind. Seit Januar 2021 mussten die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst ein reales Minus von 7,7 Prozent verkraften. Aber auch im privaten Sektor werden viele von der Inflation hart getroffen und es kommt ebenso zu Streiks – etwa in der Fabrik von Jacob’s Bakery in Aintree oder der veganen Fleischersatzfabrik Quorn in Billingham (Unite).
Insgesamt wird inzwischen von mehr Streiktagen ausgegangen, als es sie unter Margaret Thatcher gab. Bleibt die Hoffnung, dass etwas von dieser Kampfbereitschaft auch auf die Beschäftigten in Deutschland ausstrahlt, wo ab Januar ebenfalls mehrere Tarifrunden beginnen.

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