Wie die Digitalisierung des Unterrichts Lernen behindert
von Larissa Peiffer-Rüssmann
Das Smartphone ist seit zehn Jahren allgegenwärtig und zeigt uns, wie digitale Medien immer mehr unser tägliches Leben beeinflussen – und manchmal auch beherrschen. Das Smartphone kann uns problemlos begleiten, und es begleitet auch die Kinder.
Ich fahre oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln und erlebe immer häufiger, wie vor allem Mütter, aber auch Väter, fast ausschließlich mit ihrem Handy beschäftigt sind und für ihr Kind keinen Blick mehr haben. Den Kindern fehlt die Zuwendung durch Ansprache und Blickkontakt und das Gespräch über das Geschehen in ihrer Umgebung. Die Diskussion über die Auswirkungen kommt nur schleppend in Gang und die IT-Industrie hat großes Interesse, diese gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Dabei geht es um folgende Fragen: Welche konkreten Auswirkungen auf die emotionale und geistige Entwicklung der Kinder und Jugendlichen hat die sich ständig erweiternde Digitalisierung und wie beeinflusst sie unsere Lebenswelten?
Digitalisierung im Vorschulalter
In den ersten zwei Lebensjahren wird Lernen ausschließlich über Bewegung und das sensomotorische Empfinden in Gang gesetzt. Wer ein Kind in diesem Alter beobachtet, sieht es in ständiger Bewegung, es ist das feinmotorische Erkunden seiner Umgebung. Diese Bewegungslust setzt seine Denkfähigkeiten in Gang. Bewegung spielt eine wesentliche Rolle für die gesamte Entwicklung.
Vor einem Bildschirm kann das nicht geschehen. Die Faszination der realen Welt kann kein digitales Medium ersetzen. Das Gesehene ist nicht erfahrbar, das Kind kann es nicht anfassen, nicht schmecken, nicht riechen. Es erfolgt kein Training im Denken wie beim selbstgesteuerten Spiel. Digitale Medien passen in diese Entwicklungsphase der ersten Jahre nicht hinein, denn sie fördern weder den sozialen noch den kognitiven Lernprozess.
Daraus ergibt sich folgerichtig die Forderung, in den Kitas keine digitale Medien einzusetzen. Gleichzeitig müssen die Eltern umfassend aufgeklärt werden, vor allem im Hinblick auf den Gebrauch des Smartphones im Beisein der Kinder.
Tablets sind kein Garant für guten Schulunterricht
Auch Grundschulkinder wollen mit allen Sinnen lernen, auch sie wollen begreifen. Sie sind in einem Alter der höchsten Aufnahmefähigkeit. Lernen ist auch ein sozialer Prozess. Wenn aber jedes Kind allein vor einem Bildschirm sitzt, findet kein gemeinsames Lernen statt. Dagegen können im Rahmen von Projekten vielfältige Erfahrungen gemacht werden durch gemeinsame Exkursionen, Gruppenarbeiten an einzelnen Themen und Vorträge über die Ergebnisse.
Darüber hinaus können Einzelaspekte bildnerisch dargestellt oder durch Rollenspiele und Theaterspiel verdeutlicht werden. Eine von allen gestaltete Ausstellung zeigt anschaulich die Ergebnisse. Ein solcher Unterricht kommt ohne digitale Medien aus.
Im alltäglichen Leben sind wir immer mehr umgeben von digitaler Technik, sie prägen auch die Lebenswelt der Kinder. Deshalb, so heißt es, müssen schon in der Primarstufe die Chancen neuer Lernmöglichkeiten in Form von individuellen Tablets genutzt werden.
Doch bis heute gibt es keine Beweise, dass mit Computern in den Schulen effektiver gelernt wird. Vielmehr hat sich beim computergestützten Lernen ein negativer Effekt auf die Leistung gezeigt.
Wenn das eigenhändige Schreiben mit Stift und Papier ersetzt wird durch Tippen auf einer Tastatur, führt das zu schlechteren Leistungen beim Erkennen von Buchstaben, was negative Folgen für die Lesefähigkeit hat.
Eine weitere Studie, die das Lesen von Bildschirmen mit dem Lesen in Büchern vergleicht, kommt zu dem klaren Ergebnis, dass beim Lesen von Büchern deutlich mehr verstanden wird und im Gedächtnis haften bleibt als beim Lesen vom Bildschirm. Ein Computer kann das Gedächtnis nicht ersetzen. Je mehr an Inhalten ins Gehirn eingelagert wird, umso mehr wird es trainiert, immer neue Informationen aufzunehmen.
Digitale Technik, von Lehrpersonen genutzt, kann hilfreich sein. Auf Tablets für die Hand des Kindes kann verzichtet werden. Sie sind kein Gewinn, außer für die IT-Industrie.
Digitalenthusiasmus
Der unbedingte Einsatz digitaler Medien im Schulunterricht schien sich zu bestätigen, als landesweit die Schulen im Rahmen der Corona-Pandemie geschlossen blieben. Es war eine trügerische Hoffnung, während der Schulschließungen durch digitale Angebote den Kontakt zu den Schüler:innen und das Lernniveau aufrechtzuerhalten. Sie hat sich nicht erfüllt. Die Kluft zwischen starken und schwachen Schüler:innen hat sich noch vergrößert. Alle wünschten sich wieder offene Schulen und die Atmosphäre gemeinsamen Lernens.
Die Untersuchung des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hat zwischen April und August 2021 (ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie) den Bildungsstandard in den Fächern Deutsch und Mathematik untersucht. Als »besorgniserregend« haben die Bildungsforscher die Probleme der Viertklässler beim Lesen, in Mathematik und in der Orthographie beschrieben. Auch der Anteil der leistungsstarken Schüler:innen hat abgenommen
Die Schule als Raum sozialer Interaktion fehlte, und das war für alle von Nachteil. Die Defizite beim Lesen und Rechnen wieder aufzuholen, ist schwierig angesichts der katastrophalen Lage: Marode Schulgebäude, angespannte räumliche Situation, ein eklatanter Mangel an Erzieher:innen und Lehrkräften
In dieser prekären Lage hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz im September 2022 ein Gutachten zur »Digitalisierung im Bildungsbereich« vorgestellt, das die Logik betriebswirtschaftlicher Effizienzkriterien und zweckrationalen Denkens auf den Bildungsbereich anwendet. Darin geht es um »erfolgreiche Lehr- und Lernprozesse in einer digitalisierten Welt«, die im Gegensatz zum Bildungsbegriff quantifizierbar, datentechnisch erfassbar und messbar sein müssen. Und das schon im Kindergarten.
Da haben wohl die Lobbyisten ganze Arbeit geleistet. Aber die Schule ist kein Wirtschaftsbetrieb! Was wir brauchen, ist ein angemessenes Bildungsprogramm statt immer neuer Rüstungsoffensiven.
Das digitalisierte Klassenzimmer
Ehe über die Sekundarstufe und den Einsatz digitaler Medien gesprochen wird, soll ein Blick auf den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen erfolgen:
– 72 Prozent der Kinder unter 13 Jahren sind regelmäßig mit digitalen Medien konfrontiert;
– 48 Prozent der Teenager verbringen mehr Zeit am Bildschirm als mit ihren Freunden;
– knapp 90 Prozent der 13- bis 17jährigen nutzen das Smartphone regelmäßig;
– 65 Prozent nutzen einen Laptop oder PC;
– 79 Prozent der Jungen und 56 Prozent der Mädchen spielen täglich/ mehrmals pro Woche Videospiele (laut einer Untersuchung von Juni/ Juli 2020).
Eine intensive Nutzung digitaler Medien hat auch negative Folgen für die Gesundheit. Sie führt zu Haltungsschäden, Kurzsichtigkeit, Bewegungsarmut und Übergewicht, ebenso zu Aufmerksamkeitsstörungen und sozialem Rückzug.
Spätestens hier stellt sich die Frage, ob digitale Medien im Unterricht unbedingt notwendig sind. Bis jetzt gibt es keine Belege für mehr Chancengleichheit durch ihren Einsatz. Hinzu kommt, dass die Geräte ein sehr schnelles Verfallsdatum haben und mit hohen Kosten erneuert werden müssen. Da kommt der Verdacht auf, dass die Digitalstrategie vor allem von wirtschaftlichen Interessen geleitet wird.
Für eine anregende Lernumgebung brauchen Schulen Bibliotheken, Kunst-, Musik- und Theaterräume, Sportstätten, Schulgärten und eine Schulküche als Lern- und Arbeitsorte außerhalb des Klassenraums.
Darüber hinaus sollten Städte und Kommunen freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr gewähren, freie Eintritte in alle Museen und zu Kulturveranstaltungen. Diese Investitionen würden mit Sicherheit Bildung vielfältiger machen.
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