Die Arbeiterbewegung gegen den Strich gebürstet
von Gaspar Bartholic
Slave Cubela: Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2023. 424 S., 48 Euro
Wann ist eigentlich der letzte große Wurf zur Geschichte der Arbeiterbewegung und der arbeitenden Klassen geschrieben worden? Ich weiß es nicht, denn es war vermutlich vor meiner politisch aktiven Zeit. Immerhin ist der von André Gorz postulierte Abschied vom Proletariat (Frankfurt am Main 1980) schon über 40 Jahre her.
Gorz’ Abschied war kein endgültiger. Aber er war insofern prophetisch, als nahezu alles, was sich »links« schimpfte, den Buchtitel allzu wörtlich nahm, die Arbeiterklasse sich auch selber nicht mehr als solche wahrnahm und so gute 30 Jahre später Günter Thien zurecht von der »verlorenen Klasse« (Münster 2010) sprechen konnte. Dass Slave Cubelas Neuerscheinung Wortergreifung, Worterstarrung, Wortverlust. Industrielle Leidarbeit und die Geschichte der modernen Arbeiterklassen just von Günther Thien verlegt wird, ist somit konsequent. Denn dieses »Verlorensein« ist auch Cubelas Thema.
Cubela schreibt sehr empathisch aus der Sicht der Arbeitenden über die »Leidarbeit« des Proletariats. Er deckt damit eine Schicht in der Bewegungsgeschichte auf, die radikal unterbelichtet ist: Die Wortschöpfung »Leidarbeit« meint bei ihm die sprachliche – und daraus folgend auch aktivistische – Aufarbeitung des Arbeitsleids, die Artikulation dessen, was die Arbeit mit Generationen von Arbeiter:innen und damit auch mit uns macht.
Der Titel des Buches zeigt, wohin die Reise geht: Wortergreifung – ein Verweis auf die gleichnamige Studie von Ulla Pruss-Kadatz (Frankfurt am Main 1982); Worterstarrung, Wortverlust – der pessimistische (oder einfach nur realistische?) Hinweis darauf, dass die von Pruss-Kadatz diagnostizierte Wortergreifung der Arbeiterklasse nicht von langer Dauer war. Die »Worterstarrung« ist für Cubela die Zeit, in der aus der frühen Wortergreifung ein stumpfes Ritual unter der Fuchtel sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien und »Führer« wurde, der »Wortverlust« dann die Sprachlosigkeit angesichts des immer noch nicht überwundenen Arbeitsleids im Neoliberalismus.
In anderen Worten: Der Arbeiterklasse fehlt das sprachliche und gedankliche Instrumentarium, sich im Sinne E.P.Thompsons, vermutlich Cubelas wichtigstem Stichwortgeber, selber zu machen und damit auch zu ermächtigen. Und – das ist vielleicht das dringlichere Anliegen des Autors: Der heutigen Linken fehlt das Instrumentarium, um das zu verstehen.
AHA
Der zweite Punkt – und dieser richtet sich durchaus an die bislang hier in den Ring geworfenen Forscher:innen und weitere Koryphäen der Sozialgeschichte – ist das tendenzielle Vergessen der Produktionssphäre. Man kann das unterschreiben, ohne Cubelas Kritik so fundamental zu teilen, wie er sie teilweise äußert: Mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen entwickelte sich auch eine neue Sozialgeschichtsschreibung, die tendenziell – und durchaus richtig – die Reproduktionssphäre in den Vordergrund schob und darüber die Produktionssphäre (und eben das Leid, das diese verursachte) vergaß – genauso wie die linken oder sozialen Bewegungen. Oder ganz kurz: Die politische Linke und die akademische Forschung versteht das Leid der Arbeiter:innen einfach nicht.
In diesem Sinne steht Cubela einerseits auf den Schultern der Klassiker der Sozialgeschichtsschreibung und bürstet sie andererseits gegen den Strich. Er durchforstet all diese Untersuchungen nach dem, was Arbeitsleid und auch die Leidarbeit, die Aufarbeitung dieses Arbeitsleids, ausmacht. Das ist teilweise anstrengend, weil reich an ausführlichen Zitaten, aber es ist auch entsprechend fulminant, ja, notwendig.
Slave Cubela ist Gewerkschaftssekretär und Organizer und als solcher kann eine solche Untersuchung nicht stattfinden, ohne dass sie auch einen praktischen Effekt haben soll. Ja, man könnte behaupten, das ganze Buch ist nichts anderes als die erste Phase eines Organizing-Prozesses: die Suche nach dem Hauptthema, in diesem Fall eben nicht eines Gesprächspartners im »Eins-zu-Eins«-Gespräch, sondern gleich der gesamten Klasse in historischer Dimension. Das Buch bildet in dem Prozesse des AHA, Anger – Hope – Action (nicht umsonst der Titel des letzten Buches des Autors!), die erste Phase ab, den Anger (die Wut).
Die Macht der Wut
Ich komme nicht umhin, an dieser Stelle auf zwei andere Bücher zu verweisen, die nur peripher mit dem Thema zu tun haben: Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben in ihrem Soziologie-Bestseller Gekränkte Freiheit detailliert auf die Rolle des »Grolls« bei den neusten sozialen Bewegungen, namentlich den »Querdenkern«, hingewiesen. Der »Groll« ist bei ihnen etwas Negatives, quasi eine pathologische Störung. Kristina Lunz dagegen weiß in ihrer Begründung einer »feministischen Außenpolitik«, dass man Wut unkontrolliert strömen oder auf ein Ziel – Hope – ausrichten und in »Action« verwandeln kann.
Das hat für aktuelle Debatten einen interessanten Aspekt: Man könnte Slave Cubela vorwerfen, mit seiner Konzentration auf das »Leid« – auf das Opfer-Sein der Arbeiterklasse – einer »proletarischen« Identitätspolitik das Wort zu reden. Statt der real existierenden Klasse, die durch materiellen Voraussetzungen geprägt ist (der traditionelle Marxismus nennt das »an sich«), plädiert Cubela letztlich für eine Klasse, die, durchaus moralisierend, ihren Opferstatus benennt (als »Klasse für sich«), sich damit aber auch selber macht oder herstellt.
Der Vorwurf trifft aus zwei Gründen nicht: Erstens ist er so gesehen gar nicht Slave Cubelas Erfindung, man müsste den Vorwurf schon E.P.Thompson machen. Und zweitens hat er durchaus etwas für sich, gerade im Kontext des Organizing: Dieses rekurriert sehr intensiv auf die »Arbeitermacht« (Gorz’ eingangs erwähnter »Abschied« ist ja mittlerweile passé). Und das durchaus auch zurecht, aber diese Macht ist eben letztlich nur eine Möglichkeit, und asymmetrisch die schwächere Macht gegen die stärkere Macht des Kapitals.
Fühlen sich, so kritisiert der Organizer sinngemäß eine ungenannte Voraussetzung heutigen Organizings, die Arbeiter:innen von heute denn wirklich mächtig? Oder ist das nur eine linke, und eigentlich eine sehr alte linke Projektion? Und damit letztlich also ein Teil der von Cubela diagnostizierten »Worterstarrung«, genau wie Arbeiterlieder auf militärische Marschmelodie, oder muskelbepackte weiß-männliche Denkmäler, die die ausgemergelten, realen Körper der Arbeiter:innen allerlei Geschlechts nicht mal bemerken? Man muss offenbar von vorne anfangen, also bei A wie Anger.
Gaspar Bartholic entstammt einem unbekannten osteuropäischen Land und war aktiv in der Spanischen Revolution, bevor er auf einer unbekannten Insel an einem kommunistischen Putsch teilnahm. Das wenige, was wir über ihn wissen, ist nachzulesen in: Per Wahlöö, Die Generäle, Reinbek 1981.
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