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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 02/2023

Warum der gemeinsame Kampf mit ausländischen Pflegekräften wichtig ist
von Karen Spannenkrebs

Karen Spannenkrebs ist Ärztin und arbeitet für den Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) mit an dem Projekt »Pillars of Health«: Seit 2021 sammeln Organisationen aus Serbien, Rumänien, Deutschland und den Niederlanden Informationen über die Verteilung von Gesundheitsfachkräften innerhalb Europas und versuchen, die Migrations- und Gesundheitspolitik im Sinne von internationaler Solidarität zu beeinflussen.

Lässt sich der Personalmangel im deutschen Gesundheitssystem durch Importe aus dem Ausland lösen? Und was bedeutet das für die Herkunftsländer?

Operationssäle liegen brach, Notaufnahmen werden abgemeldet, die Beschäftigten arbeiten dauerhaft am Limit. Das Gesundheitssystem hat ein massives (Personal-)Problem. Da liegt es scheinbar nahe, Gesundheitsfachkräfte zu importieren. Die Abwerbung von Pflegekräften und Ärzt:innen hat in den vergangenen zehn Jahren massiv zugenommen. Im Jahr 2013 stammten nur 5,8 Prozent der Pflegekräfte aus dem Ausland, 2022 waren es 11 Prozent.
Jens Spahn unternahm als Gesundheitsminister pressewirksam Ausflüge nach Mexiko und in den Kosovo, um Abwerbeabkommen auszuhandeln. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht unter der Rubrik Pflege und Gesundheit: »Wir vereinfachen und beschleunigen die notwendige Gewinnung von ausländischen Fachkräften und die Anerkennung von im Ausland erworbener ­Abschlüsse.«
Im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien ist Deutschland vergleichsweise spät in das weltweite Ringen um Gesundheitsfachkräfte eingestiegen. Dennoch gab es auch früher schon Abwerbung: In den 1960er Jahren wurden ungefähr 10000 Pflegekräfte aus Südkorea als Gastarbeiter:innen geholt. In der deutschen Berichterstattung wurden sie als »mandeläugige Engel« mit »zierlicher Gestalt« und »sanftem Gemüt« dargestellt, entsprechend dem Sinnbild der genügsamen, lächelnden, anspruchslosen – und natürlich weiblichen – Sorgearbeiterin.
In Korea kam es durch die Abwerbung zu Mängeln und Engpässen bei der Versorgung. Tausende junge Koreanerinnen wurden zu Pflegehelferinnen ausgebildet, um anschließend abzuwandern. Obwohl es in dem Abkommen eigentlich anders vorgesehen war, wurden fast nur akademisch ausgebildete Kräfte eingestellt. Die weniger qualifizierten Hilfskräfte mussten irgendwie ins koreanische Gesundheitssystem integriert werden.
1978 wurde das Krankenkassenkostendämpfungsgesetz beschlossen. Daraufhin wurde die Abwerbung gestoppt, viele Koreanerinnen sollten abgeschoben werden. Wenige Jahre später fehlten erneut Pflegekräfte.
Ab den 80er Jahren konzentrierte sich die Rekrutierung vor allem auf Osteuropa. Die massenhafte Auswanderung von Gesundheitsfachkräften ließ die dortigen Gesundheitssysteme ausbluten.

Der WHO zum Trotz
Um der wachsenden Ungleichverteilung von medizinischem Personal entgegenzuwirken, beschloss die WHO im Jahr 2010 den Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel. Das freiwillige Abkommen soll die negativen Folgen abmildern. Es enthält:
– die Verpflichtung, das nationale Gesundheitssystem durch eine nachhaltige Gesundheitspersonalentwicklung möglichst autark zu machen und den Bedarf an ausländischen Fachkräften zu halbieren;
– das Verbot, aus Ländern abzuwerben,in denen ein kritischer Mangel herrscht;
– die Verpflichtung, Gesundheitsfachkräfte gerade in unterversorgten Gebieten im Job zu halten oder zurückzuholen.
Auch Deutschland verpflichtete sich, den WHO-Kodex einzuhalten. Rückblickend wirkt das fast zynisch: Beschäftigte haben den Sektor in Massen verlassen, weil sie die Arbeitsbedingungen nicht mehr ertragen konnten, die Regierungen ignorierten ihre internationalen Verpflichtungen.
Ab 2012 nahm die systematische Anwerbung von Gesundheitsfachkräften an Fahrt auf. Die Regierung schloss Abkommen mit der Dominikanischen Republik, Indien, Indonesien, Tunesien und Vietnam, später mit Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Vietnam. 2021 kamen der indische Bundesstaat Kerala, Brasilien und Indonesien dazu.
Etwa drei Viertel der Migrant:innen kommen nicht über staatliche Programme, sondern werden von einer unüberschaubaren Zahl privater Agenturen abgeworben. Deren Praktiken sind teilweise höchst fragwürdig. Wenn Beschäftigte bspw. vor Ablauf einer Mindestzeit aus dem Arbeitsvertrag aussteigen, fordern die Agenturen hohe Gebühren, was als »moderne Schuldknechtschaft« kritisiert wird.
Seit einigen Jahren konzentriert sich die Rekrutierung auf den Westbalkan und Osteuropa. Aus Rumänien sind von 1990 bis 2014 ungefähr 21000 Ärzt:innen und mindestens 21500 Pflegekräfte ausgewandert. Etwa 4500 dieser Ärzt:innen arbeiten in Deutschland. Diese Zahl entspricht etwas mehr als einem Prozent der Ärzt:innen in Deutschland, aber 10 Prozent der Ärzt:innen in Rumänien.

Gemeinsamer Kampf
Herkunftsländer, Ausbildung und berufliche Wege sind vielfältig. Gemeinsam ist den Migrant:innen allerdings, dass sie tendenziell dort landen, wo sonst niemand arbeiten will. Der Anteil in den verschiedenen Bundesländern spricht für sich: Hamburg bildet mit 6,8 Prozent ausländische Ärzt:innen das Schlusslicht, obwohl dort 16,8 Prozent eine ausländische Staatsbürgerschaft haben. Im Flächenbundesland Brandenburg hingegen sind es 15,5 Prozent, obwohl dort nur 4,8 Prozent eine andere Staatsbürgerschaft haben. Ausländische Bewerber:innen finden vor allem Stellen in kleinen, ländlichen Krankenhäusern, die händeringend nach Personal suchen.
Ausgerechnet dort, wo Personal äußerst knapp ist, liegt der Anteil ausländischer Kräfte besonders hoch. Ihre teils unzureichenden Sprachkenntnisse und die anfängliche Unsicherheit über Arbeitsabläufe und Verantwortungsbereiche können erhebliche Probleme verursachen. Falsche Medikamente werden verabreicht, wichtige Informationen gehen verloren, die Kommunikation mit Patien­t:innen ist erschwert. Die Schuld wird dann oft bei den ausländischen Kolleg:innen selbst gesucht statt am Zeitmangel und der kaum zu stemmenden Arbeitsdichte.
So entsteht ein Nährboden für Rassismus, der von den Klinikleitungen zumindest in Kauf genommen wird. Sie werben Fachkräfte mit unzureichenden Deutschkenntnissen an, obwohl sie keine ausreichende Einarbeitung gewährleisten können. In einem gut funktionierenden Gesundheitssystem könnten wir von den Erfahrungen ausländischer Kolleg:innen lernen und die Patient:innen könnten von ihren Fremdsprachenkenntnissen profitieren. Doch dafür braucht es (Fach-)Sprachkurse auf hohem Niveau und Zeit für die Einarbeitung.
Vor allem aber muss die Abwärtsspirale gestoppt werden, die durch die Ökonomisierung der stationären Versorgung ausgelöst wurde. Viele sind aus dem Job ausgestiegen, die Arbeitsdichte in den Kliniken ist enorm gestiegen. Auch Personalbemessungsinstrumente, wie sie in einigen Entlastungsverträgen vorgesehen sind, können dazu führen, dass in Zukunft noch mehr ausländische Fachkräfte angeworben werden.
Wir fordern die Ausfinanzierung und kostendeckende Pauschalen im stationären Sektor, eine konsequente Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einen international solidarischen Blick auf andere Gesundheitssysteme.
Unsere ausländischen Kolleg:innen sind nicht schuld an den Bedingungen, unter denen sie mit uns im Krankenhaus zusammenarbeiten. Sie sind ebensowenig exotische, genügsame Arbeitskräfte, die fügsam alle Lücken im deutschen System füllen. Was vor 50 Jahren für die Gastarbeiter:innen galt, gilt auch heute noch für unsere rekrutierten Kolleg:innen auf den Stationen: »Wir haben Arbeitskräfte gerufen, aber es kamen Menschen.«
Die koreanischen »Engel«, die vor 50 Jahren nach Deutschland kamen, blieben keine Spielfiguren, die sich nach Belieben herumschieben ließen. Ende der 70er Jahre organisierten sie im ganzen Land den Widerstand gegen ihre drohenden Abschiebungen. Mit Unterschriftenaktionen und Kampagnen konnten sie ein dauerhaftes Bleibe- und Arbeitsrecht erkämpfen. »Wir sind keine Handelsware«, schrieben die koreanischen Frauengruppen damals.
Die Beschäftigten im Gesundheitssystem müssen Macht über die Bedingungen bekommen, unter denen sie arbeiten – auch deswegen müssen wir mit unseren Kolleg:innen kooperieren, die hierher geholt wurden, um ein schlechtes System am Laufen zu halten.

Die ungekürzte Originalversion dieses Artikels erschien in Gesundheit braucht Politik, der Zeitschrift des VDÄÄ (https://gbp.vdaeae.de).

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