Die Massenmobilisierung gegen die Rentenreform eilt von Höhepunkt zu Höhepunkt
von Christian Mahieux
Seit Mitte Januar haben an mehreren Tagen jeweils Millionen Menschen gestreikt und demonstriert. Die Bewegung wird fortgesetzt; in Aussicht stehen unbefristete Streiks in mehreren Sektoren und ein Generalstreik im März. An der Spitze der Bewegung steht seit Wochen ein landesweiter Gewerkschaftsverbund, dem CFDT, CGT, FO, CGC, CFTC, UNSA, Solidaires und FSU angehören. Der Grund für diese seltene gewerkschaftliche Aktionseinheit ist der Gesetzentwurf der Regierung zu den Renten.
Der Entwurf der Regierung lässt sich wie folgt zusammenfassen:
– Das gesetzliche Renteneintrittsalter soll von 62 auf 64 Jahre angehoben werden. Vor 40 Jahren war das gesetzliche Renteneintrittsalter von 65 auf 60 Jahre gesenkt worden. Mit der jetzigen Gegenreform droht ein sozialer Rückschritt um ein halbes Jahrhundert.
– Die Beitragsdauer, die für eine Vollrente erforderlich ist, wird auf 43 Jahre verlängert. Das ist der zweite entscheidende Parameter, denn es reicht nicht, 64 Jahre alt zu sein, man muss auch sein ganzes Leben lang ununterbrochen gearbeitet haben. Das ist nicht möglich, wenn man Studienjahre, prekäre Arbeitsverträge, die immer häufigeren, nicht angemeldeten Jobs, für die keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden, usw. berücksichtigt.
– Die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern wird beibehalten, sogar verschärft, denn die Wohlhabenden können auf zusätzliche Rentensysteme zurückgreifen.
– Die wenigen noch bestehenden Rentensysteme, die günstiger sind als das allgemeine gesetzliche Rentensystem, werden abgeschafft: in der Strom- und Gasindustrie, bei der RATP (U-Bahn/Bus im Großraum Paris), der Banque de France. Eines dieser symbolträchtigen günstigeren Systeme war das der Eisenbahner:innen (SNCF), es wurde bereits durch ein Gesetz aus dem Jahr 2018 beendet.
Wie weit sind wir gekommen?
Landesweit haben die Gewerkschaftsverbände zu mehreren Streik- und Demonstrationstagen aufgerufen: am 19.Januar, 31.Januar, 7.Februar, 11.Februar, 16.Februar. Lassen wir die Zahlenschlacht beiseite, die traditionell zwischen Polizei, Gewerkschaften und Medien über die tatsächliche Beteiligung der Demonstrierenden geführt wird. Unabhängig davon, worauf man sich bezieht, ist die Beteiligung so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Das gilt nicht nur für die Metropolen, sondern auch für viele mittlere und kleinere Städte in ganz Frankreich.
Hier zeigt sich etwas, das schon bei der Gelbwestenbewegung auffiel: die starke lokale Verankerung der Bewegung in allen Regionen. Ob es dann eine Million, zwei Millionen oder zweieinhalb Millionen waren, ist da nicht mehr das Wichtigste. Die Demonstrationen sind erfolgreich und haben ein Ausmaß erreicht, wie seit Jahrzehnten nicht mehr, das bestreitet niemand.
Demonstrationen werden nicht reichen. Die Frage eines unbefristeten Streiks wird in mehreren Gewerkschaftsstrukturen diskutiert. Sie stellt sich weit über die Kreise hinaus, die sich damit zufriedengeben, ihn zu fordern, ohne ihn jemals zu organisieren. Es geht aber darum, ihn zu organisieren. Das landesweite Gewerkschaftsbündnis ist sich in dieser Frage nicht einig. Aber mehrere Organisationen sind auf dieser Position und das ist ein unbestreitbarer Fortschritt im Vergleich zu dem, was wir in der Vergangenheit bei ähnlichen sozialen Bewegungen erlebt haben.
Wir müssen uns auf die gewerkschaftsübergreifende Einheit in der Ablehnung der Rentengegenreform stützen und die Streikaufrufe mehrerer landesweiter, branchenübergreifender Organisationen in den Vordergrund stellen, die einen »unbefristeten«, »verallgemeinerten« Streik fordern, »überall, wo es möglich ist«. CGT, UNSA, FO, CGC und Solidaires haben bereits zu einem unbefristeten Streik ab dem 7.März bei der RATP aufgerufen; dasselbe gilt für CGT und SUD-Rail im Eisenbahnsektor – die Branchenaufrufe dieser Art beginnen sich zu summieren.
Aussicht auf den 8.März
Am 12.Februar rief das landesweite Gewerkschaftsbündnis (Intersindicale) dazu auf, »eine härtere Gangart einzuschlagen, indem Frankreich am 7.März in allen Bereichen stillgelegt wird. Die Intersindicale wird den 8.März, den internationalen Kampftag für die Rechte der Frauen, zum Anlass nehmen, um die große soziale Ungerechtigkeit dieser Reform gegenüber den Frauen hervorzuheben.«
Ein Vorschlag könnte daher sein, dass die Teams der Aktivist:innen sich nunmehr ausschließlich auf den Aufbau des Streiks konzentrieren: zunächst in ihrem Betrieb, aber auch darum herum, im Rahmen ihrer lokalen branchenübergreifenden Struktur. Den Streik aufbauen bedeutet, viel mehr Diskussionen am Arbeitsplatz zu führen.
Auf dieser Grundlage können Betriebsversammlungen entstehen, die die Arbeiter:innen des Standorts zusammenführen, an dem sich Kolleginnen und Kollegen jeden Tag treffen. Wesentlich ist, dass jeder und jede Einzelne zu Wort kommt; das setzt voraus, dass die Beschäftigten sich trauen, sich zu äußern. Die »Arbeitsgruppen« sind nicht geeignet, einen Streik demokratisch zu führen, weil sie einen zu großen Umkreis abdecken.
Von der Rente zum antikapitalistischen Kampf
Das Thema Rente ist ein Beispiel dafür, wie man die Verteidigung unmittelbarer Forderungen mit Alternativen zum kapitalistischen System verbinden kann. Die unmittelbare Forderung ist die Ablehnung der Konterreform. Es ist richtig, die Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters anzuprangern, die Anhebung der Anzahl der Beitragsjahre für eine Vollrente abzulehnen, eine echte Berücksichtigung von Härtefällen zu fordern, Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen und Männern zu fordern, usw.
Unmittelbar verweist das auf die Notwendigkeit, den Reichtum umzuverteilen: Viele Schilder, Parolen, Transparente, Plakate und Flugblätter verweisen auf die hunderte Milliarden Dollar schweren Gewinne der Aktionäre, ihre Steuerhinterziehung usw.
Daraus ergeben sich zwei Fragen: »Wer schafft diesen Reichtum?« und »Wie ist er verteilt?« Dann kommt man zur Antwort: »Diejenigen, die ihn durch ihre Arbeit erwirtschaften, verfügen nur über einen kleinen Anteil«, während »er von den Aktionären, den Bossen an sich gerissen wird, d.h. denjenigen, die ihn nicht erwirtschaften«.
Die Höhe der Rente ist ein weiteres Beispiel. Weithin gelten die Armutsrenten als Skandal, ebenso wie das falsche Versprechen im Zusammenhang mit der Konterreform, sie aufzuwerten – zurecht. Andere Fragen tauchen leicht auf: Dafür zu kämpfen, dass der Rentenbetrag sich auf das höchste zuvor bezogene Gehalt bezieht, ist verständlich. Aber »wenn man einmal in Rente ist, was rechtfertigt dann die Unterschiede in der ›Entlohnung‹, da dann alle die gleiche Arbeit machen (oder nicht mehr machen, wenn man Arbeit nur als Lohnarbeit versteht)?« Und dann gibt es den Skandal der Verstaatlichung des Rentensystems, dass der Staat einen Teil der Vergütung unserer Arbeit einbehält. Die Rente wird ausschließlich aus unseren Beträgen bezahlt, deshalb muss ihre Verwaltung ausschließlich in die Hände der abhängig Beschäftigten gelegt werden.
Momente des Kampfes sind Zeiten, in denen die Bewusstwerdung über Ausbeutung und Unterdrückung sich beschleunigt. Umso wichtiger ist es, Forderungen in den Vordergrund zu stellen, die die Widersprüche des kapitalistischen Systems offenlegen und seine Unfähigkeit, sich so weit zu reformieren, dass die kollektiven Bedürfnisse befriedigt und die Zukunft des Planeten gesichert werden können.
Einige Diskussionen unter Streikenden, einige Debatten in Generalversammlungen reichen aus, um diese und viele andere Überlegungen an den Tag zu bringen. Davon ausgehend ist es leichter, die Idee zu verbreiten, dass die Zukunft der Renten keine technische Frage, sondern mit der Infragestellung des kapitalistischen Systems verbunden ist.
Es geht nicht nur die Alten an
Die Konterreform greift unsere soziale Klasse an. Sie bedient die Interessen der Unternehmer und der Aktionäre. Es geht um ein Gesellschaftsprojekt. Für viele junge Menschen ist »die Rente weit weg«, einige sagen, »eine Rente werden wir nicht bekommen«. Aber sie verstehen, dass nach dem Angriff auf die Rente der auf die Krankenversicherung kommt. Und auf den bezahlten Urlaub? Und den Arbeitsvertrag? Und das Gehalt? Wir müssen eine Verbindung herstellen zwischen der unmittelbaren Forderung nach Ablehnung der Rentenkonterreform und der Möglichkeit einer anderen Zukunft.
Die Jugendlichen beteiligen sich in großer Zahl an den Demonstrationen, einige Oberschulen wurden besetzt. Die Regierung fürchtet die Jugend. Sie wollte im Januar ein allgemeines Soziales Jahr für die 15- bis 17jährigen ankündigen. Das wurde vorerst auf Eis gelegt!
Schwächt es den Internationalen Tag für die Rechte der Frauen am 8.März, wenn der Beginn des unbefristeten Streiks auf den 7.März gelegt wird? Im Gegenteil, das macht es möglich, den Internationalen Frauentag, aber auch die feministischen Kämpfe im allgemeinen, in einen antikapitalistischen Rahmen zu stellen und mit dem Klassenkampf zu verbinden.
Seit einem Vierteljahrhundert steht zu Beginn einer jeden erhofften großen sozialen Bewegung der Verweis auf den Streik von 1995. Er war in vielerlei Hinsicht wichtig, aber wir sollten uns davor hüten, daraus einen Mythos zu machen, der die Jüngeren nur abschrecken kann, wenn sie meinen, dass sie es nicht »so gut« machen können. Der Streik von 2023 gehört denen, die ihn durchführen!
Der Autor ist Eisenbahner im Ruhestand, Mitglied von SUD-Rail und dem Gewerkschaftsverband Solidaires im Département Val-de-Marne sowie Mitarbeiter der Editions Syllepse.
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