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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2023

Die Hintergründe für die Spaltung der NPA
von François Sabado

Mit der 2009 gegründeten Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) in Frankreich verband sich einst die Hoffnung, der politischen Perspektive eines wirklichen Bruchs mit dem Kapitalismus eine massenwirksame organisatorische Gestalt geben zu können. Dieses Projekt ist mit der Spaltung der NPA im Dezember 2022 endgültig gescheitert. François Sabado, ehemaliges Leitungsmitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) und bis 2015 in der Leitung der NPA, der Hauptkraft in der NPA, zieht eine kritische Bilanz.

Die Krise der NPA kam nicht aus heiterem Himmel. Sie markiert das Ende einer Epoche, nicht nur für uns, sondern für die gesamte Arbeiterbewegung in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern.
Als 1989 die Berliner Mauer fiel und die Sowjetunion zerbrach, dachten wir, dies sei nur das Ende des Stalinismus. Damals hatte ich zusammen mit Daniel Bensaïd ein Dokument mit dem Titel »À gauche du possible« (Links des Möglichen) verfasst, in dem wir einen nach vorn gerichteten Dreiklang formulierten: neue Epoche, neues Programm, neue Partei. Mit der Zeit stellten wir fest, dass es nicht nur das Ende des Stalinismus war, sondern das Ende des historischen Impulses, der von der Oktoberrevolution ausgegangen war.
Noch später erkannten wir, dass wir es mit dem Ende von allem zu tun haben, was Mitte des 19.Jahrhunderts zur Entstehung der Arbeiterbewegung geführt hat: parlamentarische Demokratie, Nationalstaat, Gewerkschaftsbewegung, politische Arbeiterbewegung, die revolutionären Strömungen eingeschlossen: Alles ist in der Krise, auch die traditionellen bürgerlichen Parteien, es ist das Ende einer Epoche.
Alle sozialen Errungenschaften und Kompromisse, die bis in die 1980er Jahre hinein erreicht wurden, werden vom Neoliberalismus schrittweise abgeschafft. Auf der Rechten erleben wir den Aufstieg autoritärer Formen von politischer Herrschaft: die Infragestellung der Demokratie, den sogenannten »Illiberalismus«, in einigen Ländern diktatorische Regime. Diese autoritären Formen entsprechen dem neoliberalen Kapitalismus des späten 20. und frühen 21.Jahrhunderts.
Die revolutionäre Linke hat es bislang nicht geschafft, als Alternative in Erscheinung zu treten. Was aber bleibt, ist der Klassenkampf. Er ist die Basis, von der aus man die Welt verstehen muss. Ein offener, veränderter, erweiterter Klassenkampf, der sich nicht auf Forderungen im Betrieb reduziert, sondern sich mit den neuen sozialen Bewegungen und den intersektionalen Kämpfen verbindet. Es ist der Kampf zwischen den Ausgebeuteten und Unterdrückten auf der einen und den Besitzenden auf der anderen Seite.
Auf diesen Sockel setzt die Ökologie auf. Meine Generation war sich dieses Problems nicht bewusst, die Ökologie ist aber kein gesondertes Thema: Wir leben in einer endlichen Welt ohne Aussicht auf Überfluss, es gibt nicht die Natur auf der einen Seite und die Produktivkräfte auf der anderen. Man muss alles neu überdenken, die Infragestellung des kapitalistischen Marktes mit den Anforderungen der Ökologie verknüpfen, das ist eine Frage des Überlebens. Die neue revolutionäre politische Perspektive muss an diese beiden Dimensionen andocken: Ökologie und Klassenkampf.

Revolutionäre ohne Revolution
In einem Artikel in der Zeitschrift Critique communiste schrieb Guillaume Liégard 2006 über die LCR: »Unser Problem ist nicht banal, wir sind Revolutionäre ohne Revolution, und das ist neu.« Meine Generation in den Jahren 1967/68 und bis 1974/75 in Portugal hat einen revolutionären Aufschwung erlebt; die letzte Revolution mit einer sozialistischen Dynamik, die wir erlebt haben, war die in Nicaragua im Jahr 1979.
Die Ligue hatte immer einen übertriebenen revolutionären Optimismus, aber es gab eben auch diesen revolutionären Anstieg, mit Generalstreiks, Situationen der Doppelmacht, Infragestellungen des Systems und offenen politischen Krisen.
Leider hat das nicht zum Erfolg geführt. Der Mai 68 war nicht die »Generalprobe«, die wir herbeigesehnt haben. Der italienische »schleichende Mai« blieb schleichend. Das Ende der Franco-Diktatur führte in Spanien nicht zu einer sozialistischen Revolution, sondern zu einem »demokratischen Übergang«.
In Portugal kam die politische Krise einer revolutionären Situation am nächsten, da der Staatsapparat zerbrochen war, die Armee in zwei Teile zerbrach und es eine Bewegung von unten gab. Aber diese ganze Phase hat nicht zu substanziellen Siegen geführt. Nicaragua ist heute ein Drama.
Und die internationale Bourgeoisie hat mit Reagan, Thatcher und der liberalen Gegenreform wieder die Initiative ergriffen. Diese liberale Gegenreform ist von außergewöhnlicher Dauer. Seit mehr als fünfzig Jahren werden soziale Errungenschaften in Frage gestellt und angegriffen.
Wenn ich die Zeitungen der Ligue noch einmal zur Hand nehme, bekomme ich den Eindruck einer permanenten Krise des Kapitalismus. Aber das kapitalistische System wechselt zwischen Krisen und Aufschwüngen und kann sich erholen, wenn eine antikapitalistische Alternative nicht die Oberhand gewinnt. Jetzt kommen zu den wirtschaftlichen und sozialen Krisen auch noch Umweltkatastrophen hinzu.
Es gibt durchaus soziale Kämpfe und Widerstände, aber das große Problem ist, dass wir eine substanzielle Krise des sozialistischen Projekts haben. Das ist der Unterschied zu früher. Es gibt keine Verbindung zwischen dem Heute und dem Morgen.

Das Neue erkennen
Im Gegensatz zu einigen Fraktionen, die heute zum Auseinanderbrechen der NPA geführt haben, war die JCR, aus der dann die LCR hervorging, nicht dogmatisch. Der libertäre Aspekt des Mai 68 war auf sie übergegangen. In ihren Reihen gab es weder einen Kult um das »Kleine Rote Buch« noch eine Idealisierung des Proletariats. Diese Fähigkeiten haben es uns ermöglicht, mit beiden Beinen auf dem Boden der Geschichte zu stehen – der Geschichte der linken Opposition gegen den Stalinismus – und zugleich eine Sensibilität für die neuen Probleme des Kapitalismus und des sozialen Widerstands zu entwickeln.
Aus dem Stalinismus haben wir Lehren gezogen. Aber das reicht nicht aus, wir müssen eine Alternative neu aufbauen und uns dabei vom Besten aus allen Traditionen der Arbeiterbewegung, der sozialen Bewegungen und der revolutionären Bewegungen inspirieren lassen. Wir müssen Klassenkampf, Ökologie, Demokratie und Internationalismus zusammenbringen, die Welt frei nach Daniel Bensaïd mit den Augen eines tschechoslowakischen Arbeiters, eines bolivianischen Bergarbeiters, eines vietnamesischen Bauern und der Frauen sehen.

Die Chance ergreifen – und richtig einschätzen
Während wir noch mit dem langen Prozess des Zusammenbruchs des Stalinismus zu tun hatten, kam der Erfolg von Besancenot. Die Kampagne von 2002 war eine Superwette gewesen. Wir hatten den Messesaal an der Porte de Versailles voll bekommen, es gab eine Dynamik. Da haben wir uns gesagt: Die Zeit für eine neue Partei ist gekommen. Das hat als Antwort auf die Fragen, die die neue Zeit stellte, aber nicht gereicht. In bezug auf die Perspektive haben wir uns getäuscht. Was rund um die Besancenot-Kampagnen 2002 und 2007 passierte, konnte noch nicht die neue Partei konstituieren, das konnte nur ein Segment sein.
Aber wir mussten uns bewegen. Bei den Präsidentschaftswahlen 2002 erreichte Besancenot 4,2 Prozent. Tausende von Menschen kamen zu uns, aber sie waren im Zweifel, und die LCR stagnierte bei 3500 Mitgliedern. Wir spürten, dass es eine Strömung gab, die über die LCR hinausging, sie blieb aber nicht. Sie hätte sich an etwas festmachen müssen – einem organisatorischen Projekt.
2007 habe ich zum erstenmal das Problem einer neuen Partei angesprochen, da hatten wir die 500 Unterschriften für die Präsidentschaftswahl noch nicht zusammen. Ich habe gesagt: »Wenn wir eine gute Kampagne schaffen und ein anständiges Ergebnis erzielen, dann machen wir es.« Wir haben es gemacht, wir sind an die 10000 Mitgliedsausweise her­angekommen, es war ein fröhliches Durcheinander, es gab eine echte Dynamik.
Auch jetzt bin ich immer noch der Meinung, dass es richtig war, die NPA zu gründen, um über die LCR rauszugehen. Aber wir haben gedacht, dass sich von da an alles um die NPA dreht, die Frage der Bündnisse wurde zweitrangig. Die NPA verfolgte einen triumphalistischen Kurs, sie hatte die Tendenz, sich an die Stelle der linken politischen Kräfte überhaupt setzen zu wollen, wir haben versucht zu substituieren. Das hat nicht geklappt, da haben die Probleme angefangen.
Deshalb haben wir die Initiative von Mélenchon nicht kommen sehen. Zu den Europawahlen 2009 gab es eine Vereinbarung zwischen der PCF und der Parti de Gauche von Jean-Luc Mélenchon, die Front de Gauche wurde gebildet. Sie traten einheitsorientiert auf, während wir die Einheit abgelehnt haben. Dafür trage ich eine Verantwortung. Die NPA konnte nicht die ganze Antwort auf die Idee einer neuen Partei sein, sie konnte nur eine Teilantwort sein. Von diesem Zeitpunkt an haben die Sekten in der NPA ein unverhältnismäßig großes Gewicht erlangt.
Wir müssen unsere Modelle überarbeiten. Wir haben eine Tradition, schon in der LCR, nicht das zu betonen, was uns zusammenbringt, sondern das, was uns trennt. Das müssen wir überdenken. Die Strömung um Olivier Besancenot und Philippe Poutou muss einheitsorientiert agieren. Sie hat eine Rolle beim Aufbau einer neuen politischen Kraft zu spielen, die politisch unabhängig, revolutionär, demokratisch, internationalistisch, ökologisch und feministisch ist.

Der Beitrag geht auf ein Interview zurück, das die Online-Zeitung ­Mediapart mit François Sabado führte und am 24.Dezember 2022 veröffentlichte.

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