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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2023

Größte Streikwelle seit einem Jahrzehnt
von Terry Conway

Die Arbeitskämpfe der letzten sieben Monate haben begonnen, den Niedergang der britischen Gewerkschaften umzukehren.

Am 1.Februar traten rund eine halbe Million abhängig Beschäftigte in ganz Großbritannien in den Ausstand – es war die größte Streikwelle seit über einem Jahrzehnt.

Die vielfältigen Aktionen verfolgten zwei Ziele: bessere Löhne und Arbeitsbedingungen und Widerstand gegen die Verschärfung der eh schon gewerkschaftsfeindlichen Gesetze, die die Tory-Regierung im Parlament durchsetzen will. Insgesamt stehen über eine Million Beschäftigte im Arbeitskampf. Der 1.Februar war der erste koordinierte Aktionstag in ganz Großbritannien.

Sechs Gewerkschaften traten am 1.Februar in Aktion. Die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes (PCS) rief als erste ihre mehr als 100000 Mitglieder in 124 zentralen und dezentralen Behörden zum Streik auf. In vielen dieser Dienststellen hatten die Beschäftigten zuvor per Briefwahl das absurd hohe Quorum für den Streik erreicht (siehe Kasten). In anderen Abteilungen, in denen die Beschäftigten diesen Schwellenwert nur knapp verfehlten, führte die Gewerkschaft eine erneute Urabstimmung durch.
Die Gewerkschaft der Lehrkräfte an weiterführenden und höheren Bildungseinrichtungen (UCU) rief 70000 Mitglieder an den Hochschulen zum Streik auf. Sie fordern, dass die Lohnkürzungen der letzten zwölf Jahre ausgeglichen werden. Die zunehmende Prekarisierung des Sektors ist ein weiterer Grund für ihre Kampfbereitschaft, und an einigen Universitäten kämpfen die UCU-Mitglieder auch gegen die Kürzung ihrer Rentenansprüche.
Die Lokführergewerkschaft ASLEF trat mit der Mehrheit ihrer 21000 Mitglieder in den Streik, diese sind in mehr als einem Dutzend Bahnunternehmen beschäftigt. Die Aktionen sollen fortgesetzt werden, da es bislang nicht gelungen ist, eine Einigung über Löhne und Arbeitsbedingungen zu erzielen.
Die Verkehrsgewerkschaft RMT, deren Mitglieder mehrheitlich keine Lokführer sind und die in vielerlei Hinsicht das Rückgrat der Streikbewegung im letzten Sommer war, führt derzeit eine Urabstimmung unter ihren Mitgliedern über ein neues Angebot von Unternehmerseite durch, wobei erwartet wird, dass es abgelehnt wird. Für die RMT geht es u.a. um das Zugbegleitpersonal. Hier stehen erhebliche Arbeitsplatzverluste ins Haus, weil viele Züge nur noch mit Fahrern besetzt werden sollen, was Menschen mit Behinderungen den Zugang zu Zügen erheblich erschwert.
Die Lehrergewerkschaft NEU, in England und Wales die größte ihrer Branche, fordert höhere Löhne, konnte aber nur in Wales ein ausreichend hohes Ergebnis erreichen. Die zweitgrößte Lehrergewerkschaft in England und Wales, NASUWT, hatte mit überwältigender Mehrheit für den Streik gestimmt, erreichte aber nicht die erforderliche Wahlbeteiligung. Einige NASUWT-Mitglieder sind deshalb der NEU beigetreten, um streiken zu können. Seit der Bekanntgabe der Urabstimmungsergebnisse hat die NEU über 40000 neue Mitglieder gewonnen.
Das Schulwesen in Schottland ist von dem in England und Wales getrennt. Die schottische Lehrergewerkschaft EIS verfolgt einen anderen Zeitplan, am 28.Februar und 1.März soll es ganztägige Streiks geben. Eine vollständige zweitägige Schließung der schottischen Schulen ist sehr wahrscheinlich.

Allgemeine Mobilisierung
Die Streiks erfreuen sich großer Beliebtheit. Viele Eltern und Schüler beteiligen sich an den Streikposten; Studierende haben sich dem Streik der Hochschullehrer angeschlossen; studentische Solidaritätsgruppen beginnen, die steigenden Lebenshaltungskosten auch für eine Million Studierende zu thematisieren.
Die Demonstrationen am 1.Februar wurden mit Hupkonzerten von Bussen und Autos begrüßt, die Menschen verließen jubelnd und klatschend ihre Arbeitsplätze und Wohnungen.
Die Berichte über die Beteiligung an den Demonstrationen waren beeindruckend: 40000 in London, 9000 in Oxford, 7000 in Bristol, 1000 in Cardiff, 500 in Swansea, 2000 in Leeds, 4000 in Manchester, 1000 in Glasgow, 700 in Nottingham bei einer Saalkundgebung, Tausende an vielen anderen Orten.
Die Menschen wissen, dass die öffentlichen Dienste nach über einem Jahrzehnt Sparpolitik vor dem Zusammenbruch stehen, das gilt insbesondere für den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS). Sie sind sich auch darüber im klaren, dass in Anbetracht dessen das »Minimum Service Bill«, wie der Entwurf des Antigewerkschaftsgesetzes heißt, ein schlechter Scherz ist.
Neben den genannten sechs Gewerkschaften stehen auch noch andere im Arbeitskampf.
Zwischen dem 6. und dem 10.Februar traten die vier wichtigsten Gewerkschaften im Gesundheitswesen in den Streik: am 6.2. und 7.2. die Gewerkschaft der Krankenpfleger:innen (RCN); am 6.2. zudem zwei Gewerkschaften im Rettungsdienst (GMB und Unite); die dritte Gewerkschaft dort, Unison, rief ihre Mitglieder am 10.Februar zum Streik auf. Die Chartered Society of Physiotherapy streikte am 9.Februar.
Die Postangestellten der Gewerkschaft CWU können ihren Streik in der Vorweihnachtszeit für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen frühestens Anfang März wiederaufnehmen. Bei den Arbeitsbedingungen geht es darum, dass die Geschäftsleitung versucht, die Fahrer zu zwingen, dass sie sich selbständig machen; Royal Mail soll in ein Paketzustellunternehmen à la Amazon verwandelt werden.
88 Prozent der Mitglieder der Gewerkschaft der Feuerwehr (FBU) haben sich bei einer Wahlbeteiligung von 73 Prozent für den Arbeitskampf ausgesprochen.
Nach dem Erfolg vom 1.Februar wird über einen weiteren koordinierten Aktionstag, evtl. Anfang März, diskutiert. Die Kampagne gegen das gewerkschaftsfeindliche Gesetz fordert eine nationale Demonstration.

Zwei Aufgaben
Im britischen Gewerkschaftsdachverband TUC sind insgesamt 98 Gewerkschaften zusammengeschlossen. Eine Ausnahme bildet die RCN, die ursprünglich eher ein Berufsverband als eine Gewerkschaft war. Die IWW, die Independent Workers Union und die United Voices of the World sind nicht Mitglied, weil sie sich als demokratischer verstehen als die traditionellen Gewerkschaften.
Nach der historischen Niederlage des Bergarbeiterstreiks 1984/85 wurden die Gewerkschaften durch politische und gewerkschaftliche Niederlagen – einschließlich Massenentlassungen und Betriebsschließungen in der gesamten Industrie – stark geschwächt. Vor allem die vormals starken Vertrauensleutestrukturen wurden geschleift. Diese Tendenz konnte nicht durch stärkere Organisierung im Dienstleistungsbereich kompensiert werden, weil die überwältigende Mehrheit der Gewerkschaftsführungen dort sozialpartnerschaftlich orientiert war und die Gewerkschaft als bessere Versicherung verstand. Kleinere und aktivere Gewerkschaften wie die RMT und die FBU waren nicht in der Lage, den allgemeinen Rechtsruck aufzuhalten. Somit zählte der Gewerkschaftsdachverband TUC im Jahr 2022 nur noch 5,5 Millionen Mitglieder gegenüber 13 Millionen im Jahr 1979.
Die Streiks der letzten sieben Monate haben begonnen, diesen Trend umzukehren – es wurden mehr Gewerkschaftsmitglieder gewonnen, es wurden mehr Aktive motiviert und vielen Menschen wurde zum erstenmal ein gewisser Eindruck ihrer kollektiven Macht vermittelt. Und weil die Tory-Regierung so verhasst ist, greifen auch Versuche nicht, die Streikenden zu beruhigen nach dem Motto: »Treibt es nicht zu wild.«
Gleichzeitig entwickelt sich langsam eine breitere soziale Bewegung, die sich mit den Streiks solidarisiert, wobei sie sich häufig von den Unterstützungsgruppen für die Bergarbeiter inspirieren lässt, die es 1984/85 gab (und die in dem bekannten Film Pride dargestellt wurden). Lokale Gewerkschaftsorganisationen, die Trades Councils, die jahrzehntelang ein Schattendasein führten, könnten allmählich eine größere Rolle spielen.
In vielen Gewerkschaften, auch in den derzeit im Streik befindlichen, haben hauptamtliche Funktionäre und nicht die von den Mitgliedern Gewählten die größte Entscheidungsmacht. Die linken Fraktionen sind in den meisten Gewerkschaften schwach und zersplittert – sie verbringen oft genauso viel Zeit damit sich untereinander zu streiten, wie sie damit zubringen, sich mit den Bossen oder der Gewerkschaftsbürokratie auseinanderzusetzen.
Dies bedeutet, dass es zwei strategische Debatten geben muss. Einerseits muss darüber diskutiert werden, wie die aktuellen Streiks gewonnen werden können. Darüber hinaus und unabhängig davon, ob es uns in allen Fällen gelingt, die Angriffe abzuwehren, müssen wir darüber nachdenken, wie wir unsere Gewerkschaften so umgestalten können, dass ihre Mitglieder selbst entscheiden, wie und wann sie Kampfmaßnahmen ergreifen.
5.2.2023

Die Autorin ist Mitglied von Anticapitalist Resistance.

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