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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2023

Noch kann die Privatisierung der Berliner S-Bahn verhindert werden
von Carl Waßmuth

Die S-Bahn Berlin ist ein Nahverkehrs-Gigant: Pro Jahr befördert sie mehr als 300 Millionen Fahrgäste, dreimal so viel, wie jährlich in allen ICEs der Deutschen Bahn fahren. Nun soll sie privatisiert werden.

Im Juni 2020 wurde eine Ausschreibung gestartet, die den Verkehr in zwei künstlich herausgetrennte »Teilnetze« aufteilt, die an verschiedene Betreiber gehen können. Diese Privatisierung war ab 2016 unter Federführung der Grünen vorbereitet worden. Ausgeschrieben wurden auch Bau, Wartung und Instandhaltung von Fahrzeugen. Der Berliner Senat bezeichnet den zugehörigen Fahrzeugpool als »Kommunalisierung«. Tatsächlich wurde eine landeseigene Briefkastenfirma geschaffen, die im Zuge der Ausschreibung eine Öffentlich-Private Partnerschaft eingehen soll. Damit öffnet der Berliner Senat über die Wagenbeschaffung und die Wagenwartung Black Rock und Co. die Tür.
Mit der Ausschreibung will der Senat durch Wettbewerbsdruck Kosten einsparen. Das geht regelmäßig zu Lasten der Qualität und der Beschäftigten. Das hat inzwischen auch die Berliner CDU erkannt: »[Es] besteht aus unserer Sicht die begründete Gefahr der Entlassung tausender Mitarbeiter. Aufgrund der befristeten Ausschreibungsdauer besteht für die Mitarbeiter keine langfristige Beschäftigungsperspektive, was zu einem Fachkräftemangel, insbesondere im Fahrdienst, führen könnte. Es ist zu befürchten, dass sich die Arbeitsbedingungen durch Tarifflucht, massive Erschwerung zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Rechte sowie durch diverse Möglichkeiten zum Aufbau von Subunternehmerpyramiden deutlich verschlechtern.«
Demgegenüber versichert die Senatskanzlei: »Bei der Ausschreibung legen die Länder Berlin und Brandenburg auf die Wahrung der Sozialstandards einen hohen Stellenwert.«
Doch selbst der höchste vorherige Stellenwert von Standards in einer Ausschreibung wird im Zuge einer Insolvenz zunichte, wie die Abellio-Pleite gezeigt hat. Die Senatskanzlei ignoriert diese Erfahrung: »Deshalb sehen die Vertragsunterlagen hinsichtlich des Arbeitnehmerschutzes umfangreiche Tariftreueverpflichtungen vor. Mit Regelungen, die bundesweit einzigartig sind, sorgen die Länder dafür, dass der Wettbewerb für die künftige Leistungserbringung nicht zulasten der Beschäftigten geht … Im Ergebnis ist das anstehende Vergabeverfahren auf eine Art und Weise sozialverträglich ausgestaltet, wie es in Deutschland noch nicht praktiziert worden ist.«
Diese Superlative können allerdings nicht beeindrucken. Milliardenschwere Verträge im Bereich der Daseinsvorsorge haben ihre Grenze, wo Unternehmen auf haftendes Eigenkapital von nur 25000 Euro beschränkt sind. Keine Ausgestaltung der Verträge kann verhindern, dass der Vertragsgegenstand – Daseinsvorsorge und Klimaschutz – nicht im Gemeinwohlinteresse gesteuert und kontrolliert wird.

Geldverschwendung
Regine Günther (Grüne), Berliner Verkehrssenatorin von 2016 bis 2021, hatte behauptet: »Durch die Ausschreibung spart Berlin 800 Millionen Euro.« Allerdings hat Günther nie offengelegt, wie sie diese Einsparung errechnet hat. Noch einmal bei der Instandhaltung sparen? Wie wichtig eine fachgerechte Wartung ist, zeigte das Berliner S-Bahn-Chaos ab 2009, als man die Deutsche Bahn auf Börsenkurs bringen wollte. Dafür musste das DB-Tochterunternehmen, die Berliner S-Bahn GmbH, finanziell bluten. Werkstätten wurden geschlossen und Instandhaltungspersonal abgebaut – bis schließlich der Betrieb um mehr als die Hälfte einbrach. Viele Wagen erwiesen sich als so kaputt, dass sie erst einmal stillgelegt werden mussten.
Mit der Ausschreibung behauptet der Senat, auf das Berliner S-Bahn-Chaos ab 2009 zu antworten. Tatsächlich werden die damaligen Bedingungen wieder neu geschaffen, nur schlimmer: Private dürfen an Kosteneinsparungen in der Wartung verdienen, während die Politik ihre Steuerungsmöglichkeiten diesmal sogar für 30 Jahre abgibt.
Bei der Finanzierung können auch keine Kosten gespart werden, ganz im Gegenteil: Hinter der Ausschreibung stehen Kredite von privaten Bietern in Milliardenhöhe, die sich für ihr Angebot das erforderliche Geld bei Banken leihen. Da geht es um wirklich große Summen. Vor dem Anstieg der Inflation war bereits von 8–11 Milliarden Euro die Rede, heute dürften es eher 15 Milliarden Euro sein. Über die langen Laufzeiten von 15 bis 30 Jahren fallen dort hohe Zinsen an. Mit dem Ende der Niedrigzinsphase steigen die Zinskosten steil an. Was auch immer Günther 2019 hat errechnen lassen – inzwischen ist es Makulatur. Durch die Zinsentwicklung sind Kostensteigerungen von mehreren Milliarden Euro zu erwarten – allerdings nur, wenn man ausschreibt; öffentliche Finanzierung ist deutlich günstiger.
Das Vorhaben enthält weitere Elemente enormer Geldverschwendung: Eine halbe Milliarde Euro würden allein die Bauwerke kosten, die für die Auftrennung des Netzes gebaut werden sollen und ansonsten keinen Nutzen haben. Es ist auch wirtschaftlich enorm unvernünftig, einen neuen Fahrzeugtyp auszuschreiben, wo gerade die ersten Fahrzeuge eines eben erst entwickelten S-Bahn-Typs ausgeliefert werden.

Zerschlagung
Neben den Kosten droht das intakte Bahnsystem, durch die Ausschreibung zerstört zu werden. Die CDU beschreibt es so: »Die Ausschreibung … birgt die Gefahr der S-Bahnnetz-Zerschlagung.« Man fordert: »Das Land Berlin sollte seinen Einfluss, auch mit Blick auf das Mobilitätsinteresse der Berliner und die Nachhaltigkeit unserer Stadt, nicht aus der Hand geben.«
Der Film Bahn unter dem Hammer von Herdolor Lorenz und Leslie Franke aus dem Jahr 2007 spielte einst eine wichtige Rolle in der später geglückten Verhinderung des Bahnbörsengangs. Im Film berichtet ein britischer Anwalt, welche Folgen die Aufteilung von Bahnbetrieb und Netzbetrieb auf verschiedene Akteure im Fall einer betrieblichen Unregelmäßigkeit haben. Statt möglichst schnell wieder für Regelbetrieb zu sorgen, entsenden die verschiedenen Beteiligten juristische Vertreter:innen, die darlegen sollen, dass man keine Schuld trage und Anspruch auf Schadenersatz habe. Bei der S-Bahn Berlin können es bis zu vier Akteure werden, die künftig im eng vertakteten S-Bahn-Netz interagieren sollen – bei Störungen ein Fest für AnwältInnen, die Fahrgäste bleiben allerdings auf der Strecke.
Gegen die S-Bahn-Ausschreibung gibt es seit Jahren erheblichen Widerstand. Insbesondere die Bündnisse Bahn für Alle und eine S-Bahn für Alle sowie Gemeingut in BürgerInnenhand haben zahlreiche Aktionen organisiert. Mit der Übergabe von 10000 Unterschriften gegen die Ausschreibung an die grüne Spitzenkandidatin und Verkehrssenatorin Bettina Jarasch am 16.Januar 2023 gelang ein Pressecoup, zahlreiche Medien berichteten bundesweit darüber. Bei der Entgegennahme der Unterschriften sagte Frau Jarasch den Demonstrierenden: »Die Zeiten des Neoliberalismus sind vorbei … Die Bedingungen für die Beschäftigten bleiben erhalten, das bestimmen wir über den Rahmen der Vergabe.«
Die Ausschreibung ist allerdings durchaus Neoliberalismus reinsten Wassers – eine Neuauflage der teuer gescheiterten Privatisierung der Londoner U-Bahn, nur eben 20 Jahre später und in Berlin. Das Projekt geht weit über das hinaus, was die neoliberale Gesetzgebung auf Bundesebene vorschreibt. Dort steht nichts von einer Zerschlagung der S-Bahn in drei Teile und auch nichts von der Abtrennung von Beschaffung und Instandhaltung der Wagen im Zuge einer öffentlich-privaten Partnerschaft mit 30 Jahren Laufzeit. Man hätte genauso gut auch »nur« einen neuen Betreiber für die ganze S-Bahn suchen können.

Eine Rekommunalisierung ist möglich
Ein zentrales Argument für die Ausschreibung ist das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, das unter Federführung der CDU das ohnehin bereits sehr wettbewerbsfreundliche Europarecht noch verschärft hat. Allerdings haben Berlin und Brandenburg auch die Möglichkeit der Direktvergabe. Dazu müssen die beiden Länder einen bestimmenden Einfluss auf das betreffende Unternehmen ausüben, zum Beispiel durch Erwerb von Anteilen an der S-Bahn Berlin GmbH.
Diese Option scheitert angeblich an der formellen Privatisierung der Bahn: »Die Deutsche Bahn will die S-Bahn Berlin nicht verkaufen« (Bettina Jarasch am 16.1.2023). Im Wassersektor haben Berliner Aktive jedoch durchaus erreicht, dass die Konzerne RWE und Veolia ihre Anteile an den Berliner Wasserbetrieben veräußern mussten – obwohl sie zuvor definitiv nicht verkaufen wollten. Die DB AG hat inzwischen wirklich hohe Schulden, die Grünen sind inzwischen in der Bundesregierung und haben zwei Posten im Aufsichtsrat der DB – das wären neue Optionen für eventuelle Kaufanfragen.
Es gibt vermutlich Gründe, warum die rot-grün-rote Regierung bei der Wiederholungswahl zum Abgeordnetenhaus im Februar 2023 abgestraft wurde. Der Versuch der S-Bahn-Privatisierung gehörte wahrscheinlich dazu. Die CDU ist aus der Wahlwiederholung als stärkste Partei hervorgegangen. Im Wahlkampf wollte sie laut Aussagen ihres Spitzenkandidaten Kai Wegner »intensiv prüfen, wie die S-Bahn-Ausschreibung gestoppt und die S-Bahn in einer Hand bleiben kann«.
Tatsächlich ist bereits bekannt, wie das geht: eine Rekommunalisierung durch Kauf der S-Bahn Berlin würde das ermöglichen. Was bisher fehlte, war der politische Wille. Das könnte sich jetzt ändern: In allen Koalitionsgesprächen wird die S-Bahn vermutlich einer der wichtigsten Punkte sein.

Der Autor ist Mitglied des Vorstands von Gemeingut in BürgerInnenhand.

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