Die Unfähigkeit zu regieren stürzt das Land in eine Staatskrise
Gespräch mit Hugo Cabieses
Seit dem 7.Dezember 2022 kommt Peru nicht mehr zur Ruhe. An dem Tag hielt der am 6.Juni 2021 mit einer knappen Mehrheit gegen die Tochter des inhaftierte Exdiktators Alberto Fujimori, Keiko Fujimori, zum Präsidenten gewählte, indigene Lehrer Pedro Castillo eine denkwürdige Rede, in der er das Parlament auflösen wollte. Im Gegenzug wurde Castillo vom Parlament »wegen moralischer Unfähigkeit« abgesetzt und hinter Gitter gebracht.
Das wiederum löste im ganzen Land, aber vor allem in den mehrheitlich von Indigenen besiedelten südlichen Provinzen Cuzco, Arequipa und Ayacucho eine Welle von Massenmobilisierungen aus, bei denen Dutzende Demonstrant:innen von der Polizei und der Armee getötet wurden.
Der in Peru allgemein bekannte Nationalökonom und Vertreter der Linken, Hugo Cabieses, erklärt im nachstehenden Gespräch mit Leo Gabriel, wie das Andenland innerhalb von wenigen Monaten zu einem »failed state« geworden ist. Cabieses war 2011 kurzzeitig Umweltminister, bevor er wegen seines Engagements gegen die transnationalen Bergbauunternehmen zurücktreten musste.
Ich erinnere mich, dass Sie ziemlich begeistert waren, als der Lehrer und Gewerkschafter Pedro Castillo, Fahnenträger der indigenen Bewegung, die Präsidentschaftswahlen im Juni 2021 gegen Keiko Fujimori, Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori und Vertreterin der peruanischen Oligarchie, gewann. Sind Sie jetzt enttäuscht von Castillo?
Ja, leider bin ich sehr enttäuscht. Allerdings habe ich im ersten Wahlgang nicht für Professor Castillo gestimmt, sondern für die Kandidatin der Sozialistischen Partei, Verónika Mendoza. Sie kam, glaube ich, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auf Platz 5. Ja, leider bin ich sehr enttäuscht.
War etwa Castillo gar kein Linker?
Nun, erstens hat er gar keiner Partei angehört. Seine Partei war nicht Perú Libre. Perú Libre ist eine Partei, die von Vladimir Cerrón gegründet wurde, der nach einem Gerichtsverfahren nicht als Präsidentschaftskandidat nominiert werden konnte. Deshalb schlug er Professor Castillo als Kandidaten vor, der 2017 einen großen Lehrerstreik angeführt hatte, der ihn landesweit bekannt machte, und wurde von den Lehrern der Gewerkschaft SUTEP (Sindicato Único de Trabajadores de la Educación) unterstützt. Er stammt aus einer Kleinstadt in der Provinz Cajamarca; dass er auf Anhieb mit einem sehr knappen Vorsprung die Präsidentschaftswahlen gewann, war hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass eine Mehrheit der Bevölkerung, auch aus der politischen Mitte und der Linken, unbedingt die mit der Oligarchie eng verbundene Keiko Fujimori verhindern wollte.
Welches waren seine wichtigsten Wahlversprechen und hat er diese in eineinhalb Jahren zumindest ansatzweise umgesetzt?
Er hat sie alle verraten. Aber ein Punkt, der den Menschen bis heute besonders am Herzen liegt, ist die Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung.
Im Punkt 7 seines Programms hieß es, dass so bald wie möglich ein Referendum zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung abgehalten werden sollte, was angesichts des von den rechten Parteien dominierten Parlaments besonders wichtig war. Kaum war Castillo Präsident, hat er diesen Vorschlag beiseite gelegt.
Abgesehen davon hat er der Korruption den Kampf angesagt, treffe es wen es wolle. Nun ist er selbst ist in schreckliche Korruptionsskandale verwickelt – er selbst, seine Frau, seine Familie, seine Freunde und so weiter.
Worin bestand die Korruption?
Die Staatsanwaltschaft hat etwa neun Akte mit schweren Korruptionsfällen eröffnet, an denen er direkt beteiligt ist. Zwei Fälle müssen besonders hervorgehoben werden: Einer von Castillos Freunden hat 30000 Soles an Bestechungsgeldern für die Ernennung einer Person zum Manager des verstaatlichten Erdölunternehmens Petroperú erhalten, in der Hoffnung, dass er und seine Familienmitglieder nach dessen Ernennung noch viel mehr erhalten würden.
Zum anderen hat er die Ermittlungen gegen zwei seiner Neffen boykottiert, die auf der Flucht sind; sein Minister für Verkehr und Kommunikation ist ebenfalls auf der Flucht, weil er Bestechungsgelder für die Ausführung einer Reihe von öffentlichen Arbeiten erhalten hat, darunter Straßen und Autobahnen in der Umgebung von Castillos Herkunftsort. Auch der ehemalige Generalsekretär des Präsidialamtes, Bruno Pacheco, ist auf der Flucht, in der Toilette seines Büros im Regierungspalast wurde ein Umschlag mit 30000 Dollar gefunden.
Es gibt noch zwei weitere Vergehen, die sehr, sehr wichtig sind. Das eine hat damit zu tun, dass die Wirtschaft auf Autopilot lief, ohne dass wesentliche Änderungen bei der Verwendung der öffentlichen Mittel vorgenommen worden wären. Allerdings ist dafür nicht der Präsident der Republik zuständig, sondern der Wirtschafts- und Finanzminister. Dieser hätte Mittel für das Gesundheits- und Bildungswesen und die Basisinfrastruktur in verschiedenen Dörfern bereitstellen sollen. Das hat er nicht getan. Er hat sich damit begnügt, nach der Pandemie ein relativ hohes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen und die Inflation einigermaßen in den Griff zu bekommen.
Das andere Vergehen hat mit Umweltfragen zu tun, für die natürlich der Umweltminister zuständig ist, aber der Präsident der Republik und der Präsident des Ministerrats müssen verlangen, dass Umweltfragen wirksam angegangen werden. Zum einen geht es um eine Ölpest, die sich hier an der Küste Limas ereignet hat, zum anderen um die Abholzung der Wälder, die nach seiner Regierungsübernahme mit noch größerer Intensität fortgesetzt wurde als vorher.
Diese Situation bezeichnen die meisten als »Staatskrise«. Gibt es dafür irgendeine Lösung? Und welche wäre das?
Es gibt ein großes Problem, denn die Regierung von Dina Boluarte, die am 7.Dezember nach dem gescheiterten Selbstputschversuch von Castillo zur Präsidentin ernannt wurde, und insbesondere ihr Premierminister gehen weder auf die Demonstrationen noch auf die zivilen Todesopfern ein, die von den Sicherheitskräften während der Demonstrationen getötet wurden. Sie beschuldigen »fremde Elemente, Drogenhändler, Kriminelle, Missbraucher«: das sind die Attribute, die sie den Demonstrierenden entgegenschleudern. Sie behaupten, unter ihnen tummelten sich »Terroristen«, was eine Lüge ist.
Sie machen auch den ehemaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales und seine Anhänger verantwortlich und behaupten, seine »roten Ponchos« würden die Bevölkerung von Puno aufhetzen, um einen unabhängigen Staat in den südlichen Departements (Cuzco, Arequipa, Puno, Ayacucho usw.) zu schaffen.
Das alles ist falsch, und die Regierung weiß ganz genau, dass das falsch ist. So falsch, dass Dina Boluarte den Leiter des Nationalen Nachrichtendienstes entlassen musste, weil er die Demonstranten behandelte, als seien sie ausländische Terroristen, die in unser Land eingedrungen sind. Diese Situation macht es so schwierig, kurzfristig einen Dialog zu führen.
Außerdem behauptet die Regierung, sie wisse nicht, mit wem sie sprechen solle, weil es angeblich keine führenden Persönlichkeiten gäbe, die sich zu erkennen geben, was ebenfalls nicht stimmt. Es gibt führende Politiker:innen, die fordern jedoch den Rücktritt von Dina Boluarte als Bedingung für die Aufnahme eines Dialogs. Sie fordern auch, dass die Wahlen im Jahr 2023 und nicht erst 2024 stattfinden sollen, wie Dina Boluarte vorgeschlagen hat, und dass eine verfassunggebende Versammlung einberufen werden muss – wahlweise ein Referendum, um die Bevölkerung zu fragen, ob sie eine verfassunggebende Versammlung einberufen will oder nicht.
Das sind die Punkte, die die Regierung nicht akzeptiert, und der mobilisierte Teil der Bevölkerung akzeptiert nicht, dass die Regierung sie nicht akzeptiert.
Die Regierung wendet also eine Strategie an, die mir die schlechteste zu sein scheint: sie reagiert auf die Mobilisierungen mit Kugeln. Und sie beruft Versammlungen ein, die keine Versammlungen sind, sondern Runde Tische. Aber dabei übergeht die Regierung die Oppositionsführer, weil sie sie als Aufwiegler, Radikale, Drogenhändler und Kriminelle betrachtet. Wir sitzen also in einer Falle.
Was könnte Ihrer Meinung nach dazu beitragen, dass sich die Lage zumindest für eine Weile etwas beruhigt, um einen Dialog zu führen?
Ich denke, es braucht eine Drei-Punkte-Strategie. Der erste Schritt muss der Rücktritt von Dina Boluarte sein. Zweitens muss nach der Verfassung im Falle eines Rücktritts des Staatspräsidenten der Präsident des Kongresses die Regierung übernehmen.
Es stellt sich aber heraus, dass der derzeitige Parlamentspräsident ein bekannter Mörder ist. Es ist der pensionierte peruanische Armeegeneral namens Williams, der eines Massakers während der Amtszeit Fujimoris beschuldigt wird. Er ist einer der härtesten Militärs. Er würde die mobilisierte Bevölkerung noch mehr aufhetzen, denn die Massaker, von denen ich spreche und an denen er beteiligt war, haben gerade in Ayacucho, Cuzco und Puno stattgefunden, wo die Mehrzahl der Demonstrationen stattfindet.
Die Wahl eines neuen Parlamentspräsidenten setzt also einen Konsens voraus, was äußerst schwierig, aber nicht unmöglich ist.
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