Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 03/2023

Die Aufgaben und Chancen der Bewegung nach Lützerath
Gespräch mit Vertreter:innen der Klimagerechtigkeitsbewegung

Maria Inti Metzendorf ist 41 Jahre alt, Gesundheitswissenschaftlerin und aktiv bei Scientist Rebellion

Jan will anonym bleiben und ist aktiv bei Zucker im Tank (ZIMT)

Irma Trommer ist Schauspielerin und engagiert sich bei Letzte Generation

Mit ihnen sprachen Matthias Becker und Gerhard Klas

Wie geht es euch persönlich nach der Räumung von Lützerath?

Inti: Teils, teils. Wie brutal und schnell dieser Ort zerstört wurde, empfinde ich als schmerzhaft. Mit hohem finanziellem und personellem Aufwand sollte uns gezeigt werden, wer das Sagen hat. Andererseits sind im besetzten Lützerath die vielen unterschiedlichen Strömungen der Klimagerechtigkeitsbewegung zusammengekommen, und das gibt mir viel Kraft. Deshalb fühlt sich dieser Verlust komischerweise wie ein Sieg an.
Jan: Ich habe auch Lützerath als Moment des Aufbruchs erlebt. Auch dass sich ein großer Teil der Demonstration nicht an die offizielle Route gehalten hat, sondern direkt nach Lützerath gegangen ist, fand ich sehr ermutigend. Die Frage ist jetzt, wie diese neue Energie in längerfristige Strukturen oder Ortsgruppen einfließen kann.
Irma: Bei mir hat die Verzweiflung und die Wut der Menschen in Lützerath einen starken Eindruck hinterlassen. Ich denke, unsere gemeinsame Aufgabe als Klimagerechtigkeitsbewegung ist es, die Kraft, die in dieser Wut steckt zu nutzen, indem wir sie in Protest verwandeln, der nicht ignoriert werden kann.
Inti: Ich kam vor vier Jahren zur Klimagerechtigkeitsbewegung, weil mir durch meine wissenschaftliche Arbeit klar wurde, wie dramatisch die Klimakrise mittlerweile geworden ist. Damals kannte ich Demos, zivilen Ungehorsam dagegen nicht. Als dann 2018 der Hambacher Forst geräumt wurde, habe ich die Gegenaktionen von Ende Gelände mitverfolgt, und das fand ich toll! Ich engagiere mich bei Scientists Rebellion auch, weil ich mit meiner Reputation als Wissenschaftlerin dazu beitragen kann, zivilen Ungehorsam zu enttabuisieren. Wir brauchen eine radikale Flanke, ich bin dankbar dafür, dass es sie gibt.
Jan: Die Räumung ist relativ glimpflich verlaufen, weil die Bewegung sich nicht hat spalten lassen. In den Bündnistreffen vorher ist gegenseitiges Verständnis und Vertrauen entstanden, und so konnte eine Distanzierung vermieden werden. Das finde ich entscheidend, denn sobald es Distanzierungen gibt, wird die Polizei härter gegen den sog. extremistischen Teil der Bewegung vorgehen.
Irma: Unsere Strategie ist, eine größtmögliche Störung der öffentlichen Routine zu erzeugen. Die Bewegungsforschung zeigt, dass gewaltfreier ziviler Ungehorsam schnell Veränderung bewirken kann. In der Gewaltfreiheit liegt eine große Stärke und Anziehungskraft.

Die staatlichen Maßnahmen gegen die Bewegung werden schärfer, ein Teil der medialen Berichterstattung ist diffamierend.

Irma: Es ist möglich, dass die Kriminalisierung der Klimagerechtigkeitsbewegung weiter zunimmt, z.B. wenn die Polizeigesetze verschärft werden. Repressionen wirken natürlich erst einmal abschreckend, aber sie haben auch eine mobilisierende Wirkung: Es ist auch für bis dato Unbeteiligte leicht ersichtlich, dass es unverhältnismäßig ist, Menschen wochenlang in Präventivgewahrsam zu nehmen, die sich für Klimaschutz durch leicht erfüllbare Forderungen wie ein Tempolimit von 100 km/h auf die Straße setzen.
Wir haben immer wieder erlebt, dass Menschen aktiv werden, weil sie das ungerecht finden. Wir leben in einer Demokratie und nutzen demokratische Mittel, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir sehenden Auges in eine Katastrophe rasen. Das Recht ist auf unserer Seite, wenn wir fordern, dass die Verfassung eingehalten wird.

Bei Aktionen geht ihr unterschiedlich mit der Staatsgewalt um. Manche verweigern die Personalien und versuchen, unerkannt zu bleiben, andere ausdrücklich nicht.

Jan: Wir versuchen anonym zu bleiben. Ich finde das sehr sinnvoll, gerade bei massenhaften Aktionen zivilen Ungehorsams. Dadurch wird der Polizeiapparat überfordert. Die Polizei ist dann nicht mehr in der Lage, so viele Menschen gleichzeitig in Gewahrsam zu nehmen. Und so war es ja auch in Lützerath…
Irma: Wir setzen auch auf eine Überforderung des Apparats, deswegen geben wir unsere Personalien an. Gegen mich laufen gegenwärtig über fünf Gerichtsprozesse. Wir setzen uns aktiv den Repressionen aus, aber es gibt unzählige Aufgaben im Rahmen unserer Kampagne, für die das nicht nötig ist.
Jan: Im Hinblick auf Gerichtsverfahren unterscheiden sich unsere Strategien wahrscheinlich gar nicht so sehr. Wir bei Zucker im Tank versuchen sie zu vermeiden, aber wenn es dazu kommt, nutzen wir sie auch.

Muss die Klimagerechtigkeitsbewegung in Zukunft enger und verbindlicher zusammenarbeiten? Was plant ihr in nächster Zeit?

Inti: Im Oktober 2022 sind wir von Scientist Rebellion mit Letzte Generation und der internationalen Kampagne Debt for Climate ein Bündnis eingegangen für einen Schuldenerlass für die Länder im globalen Süden, die besonders stark von der Klimakrise betroffen sind. Wir waren auch Teil des Aktionsbündnisses »Lützerath unräumbar«, und das habe ich durchweg als positiv erlebt.
Jan: Die Energie von Lützerath muss in eine kontinuierliche Arbeit übersetzt werden, z.B. mit lokalen Ortsgruppen. Ende Gelände diskutiert, nächstes Jahr keine Massenaktionen zu machen, sondern dezentrale und lokale Aktionen, um Ortsgruppen zu stärken. Ich halte das für sinnvoll. Außerdem wollen wir noch dieses Jahr ein Movement Building Camp organisieren.
Irma: Wir sind in zuletzt schnell und stark gewachsen und haben bundesweit sehr aktive Ortsgruppen. Der Fokus liegt jetzt nicht mehr auf Berlin, sondern auf ganz Deutschland. Ich denke, es ist unerlässlich, dass wir als Klimagerechtigkeitsbewegung zusammenarbeiten, Lützerath hat gezeigt, dass das ganz neue Möglichkeiten schafft.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist mittelschichtig und studentisch geprägt. Bei den Klimastreiks bspw. passierte an Real- und Berufsschulen fast nichts, jedenfalls viel weniger als an Gymnasien und Universitäten. Seht ihr das als Problem?

Inti: Mir ist in erster Linie wichtig, dass wir mehr werden. Sicher wäre es gut, wenn die Bewegung alle Teile der Gesellschaft erfasst. Entscheidend ist, dass wir Druck aufbauen. Dazu müssen wir breiter werden oder radikaler werden, vielleicht auch beides gleichzeitig. Wir kriegen in Deutschland ja nicht einmal ein Tempolimit durchgesetzt, und das ist extrem bitter.
Jan: Wir sind als Bewegung in Wirklichkeit nicht divers. Wir müssen uns fragen, warum sich so wenige Menschen aus den ärmeren Schichten und so wenige Migrant:innen, Indigene und People of Colour beteiligen.
Irma: Wir organisieren uns so, dass möglichst alle Menschen mitmachen können. Für migrantisierte Personen beispielsweise bedeutet die Konfrontation mit der Polizei und staatlicher Repression in aller Regel etwas anderes als für mich. Wir versuchen grundsätzlich deutlich zu machen, dass es nicht nur darum geht, sich auf die Straße zu kleben. Es gibt unendlich viele Aufgaben, die alle gleich wichtig sind. Die direkten Aktionen erregen die meiste Aufmerksamkeit, aber sie sind nur möglich, weil es eine unterstützende Struktur dahinter gibt. Natürlich ist es schmerzhaft, sich der Polizei oder Gewalt auszusetzen. Aber das bedeutet nicht, dass solche Aktionen mehr Mut, Stärke oder Kraft erfordern als andere Aufgaben. Dass wir die unterschiedlichen Beiträge gleichermaßen wertschätzen, finde ich unheimlich wichtig.
Jan: Ich denke auch, dass wir Hürden abbauen und den Zugang vereinfachen müssen. Gleichzeitig müssen wir in die Breite wachsen und Gegenmacht aufbauen. Die Parole »Die Kämpfe zusammenführen« trifft es gut, finde ich. Wir sollten andere Kämpfe unterstützen und von ihnen lernen.
Im Bereich Gesundheit können wir argumentieren: »Wegen der Klimakrise gibt es immer mehr Hitzetote.« Im Bereich Antirassismus und Migration: »Wegen der Klimakrise müssen Menschen fliehen.« In Lützerath haben sich Menschen mit einem Rollstuhl abgeseilt, das fand ich total cool, weil Menschen mit Behinderungen viel stärker von der Klimakrise bedroht sind, wie sich z.B. bei der Überschwemmung im Ahrtal gezeigt hat. Fridays for Future macht eine Kampagne mit den Beschäftigten im ÖPNV. Bei solchen Gelegenheiten kommen wir in Kontakt mit den Menschen und können mit ihnen über die Klimakrise sprechen.

Die wohl beliebteste Parole in der Klimagerechtigkeitsbewegung lautet: »Systemwandel statt Klimawandel«. Allerdings unterscheiden sich die Vorstellungen erheblich, wie dieser Wandel aussehen soll und wie tiefgreifend er sein muss. Begreift ihr euch als antikapitalistische Bewegung?

Jan: Für uns ist Antikapitalismus zentral. Appelle an die Regierungen reichen nicht. Sie sind mit dem herrschenden Kapitalismus verwoben, der Staat insgesamt ist eng mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise verzahnt. Die Auseinandersetzung um Lützerath hat bewiesen, dass Regierungen jede Kleinigkeit abgerungen werden muss. Die Grünen sind an der Macht, trotzdem ändert sich nichts. Die Klimagerechtigkeitsbewegung sollte die dadurch entstehende Desillusionierung aufgreifen. Wir müssen Gegenmacht aufbauen und gesellschaftliche Alternativen entwickeln, die interessant und einleuchtend sind.
Irma: Um Missverständnisse zu vermeiden: Wir vertrauen nicht auf die Grünen oder eine andere Partei. Die Frage ist, was innerhalb der nächsten zwei Jahre möglich ist. Können wir die ganze Gesellschaft verändern? Ich glaube nicht. Die beste Chance, die wir haben, ist, so viel Druck auszuüben, dass die bestehenden Hebel für Veränderungen bedient werden. Wir müssen auf diejenigen einwirken, die die Entscheidungen treffen. Ich denke, dass eine Art von Systemwandel notwendig ist, aber damit er überhaupt möglich ist, muss die Klimakrise unter Kontrolle gebracht werden.
Inti: Ich sehe eine gewisse Gefahr darin, sozialpolitische Fragen in den Vordergrund zu stellen. Das kann schnell zerfasern. Wir als Organisation sehen schon, dass eine sozialgesellschaftliche Transformation stattfinden muss. Wir versuchen auch, pragmatische Lösungen zu präsentieren, wie sie funktionieren kann.

Aber ist die soziale Ungleichheit nicht eine der Ursachen für die gegenwärtige Blockade beim Klimaschutz?

Irma: Wir sprechen von den »99 Klima-Prozent«: 99 Prozent der Weltbevölkerung leidet unter dem Lebensstil von einem Prozent. Im Endeffekt ist nur ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung für einen Großteil der Treibhausgase verantwortlich. Wir könnten Privatjets und Privatjachten verbieten, das würde niemandem schaden, und das wäre schon ein ziemlicher guter erster Schritt.
Jan: Sicher, die Superreichen verursachen einen unglaublichen CO2-Ausstoß. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass ein großer Teil der Bevölkerung im globalen Norden mit seiner imperialen Lebensweise ebenfalls zur Klimakrise beiträgt, und das müssen wir auch zur Sprache bringen. Die Gretchenfrage lautet, wie wir Strukturen verändern können, damit ein wirksamer Klimaschutz möglich wird.
Wie bekommen wir bspw. einen guten und günstigen ÖPNV für alle? Die Eigentumsverhältnisse verhindern Klimaschutz. Ungefähr 70 Prozent der CO2-Emissionen sind auf eine Handvoll Unternehmen zurückzuführen. Da müssen wir die Machtfrage stellen, um sie daran zu hindern, einfach so weiter zu machen wie bisher.
Irma: Unsere Forderung nach einem 9-Euro-Ticket zielt auf strukturelle Veränderungen, wenn auch vielleicht nicht auf Systemwandel. 80 Prozent der Weltbevölkerung sind noch nie geflogen. Flugreisen sind global betrachtet ein riesiges Privileg.

Rechte Bewegungen schüren die Angst davor, dass durch einen konsequenten Klimaschutz der Lebensstandard sinken würde, auch bei ärmeren Menschen. Wie groß ist die Gefahr von rechts – und wie sollten wir auf sie reagieren?

Jan: Die AfD setzt verstärkt auf das Thema Klima als Angstmacher. Sie will sich als Beschützerin der sog. kleinen Leute darstellen, als Verteidigerin des angeblichen Grundrechts auf Autofahren und Fleischkonsum. Diese Rhetorik kann tatsächlich verfangen. Deswegen müssen wir immer wieder betonen, dass es eine ökologische und soziale Transformation sein muss, dass diese zwei Aspekte untrennbar zusammengehören. Gerade wegen der rechten Hetze müssen wir über Umverteilung sprechen und die Eigentumsfrage stellen.
Irma: Es gibt kein Grundrecht auf Autofahren. Das Auto nutzen ganz überwiegend weiße Männer mittleren Alters, und die fahren darin meistens allein. Frauen haben ganz andere Bewegungsmuster, für sie ist die heutige MobilitätsInfrastruktur überhaupt nicht gut.
Inti: Als Gesundheitswissenschaftlerin möchte ich darauf hinweisen, dass die finanziellen Kosten nur ein Aspekt der notwendigen Transformation sind. In vielen Fällen würde das, was als Verzicht dargestellt wird, uns die Möglichkeit geben, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern – z.B. durch weniger Fleischkonsum, aktivere Mobilität, bessere Luftqualität. Wir sollten solche positiven Aspekte herausstellen, an konkreten Beispielen zeigen, dass die notwendigen Veränderungen für die Bevölkerungsmehrheit von Vorteil sein können.

Brauchen wir umfassendere Konzepte für eine bessere Gesellschaft, um die notwendigen Veränderungen zu erreichen? Es gibt entsprechende Schlagworte: das lateinamerikanische Konzept buen vivir, De-Growth, Ökosozialismus. Sprecht ihr über solche gesellschaftlichen Gegenentwürfe?

Irma: Unsere Funktion ist die eines Alarmzeichens. Wir können die notwendigen strukturellen Veränderungen nicht vorwegnehmen.
Inti: De-Growth ist ein wichtiges Thema für uns, das Konzept wurde schließlich von Wissenschaftler:innen entwickelt. Daran führt schlicht kein Weg vorbei.. Ansonsten sehe ich es ähnlich wie Irma: Wir läuten die Alarmglocken, aber wir können nicht alles regeln, was sich über Jahrzehnte, über Jahrhunderte an Reformstau aufgebaut hat.
Jan: In meiner Gruppe gibt es keine einheitliche Vorstellung über die zukünftige Gesellschaft. Ich finde das auch besser, keine fertiges Modell im Kopf zu haben, das dann nur noch umgesetzt werden muss. Ich denke, dass Bausteine aller genannten Konzepte brauchbar sind, um über eine andere Gesellschaft ins Gespräch zu kommen.
Irma: Wir kämpfen für das Leben und für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Das sind grundlegende Menschenrechte, die im Grundgesetz verankert sind. Wir wollen, dass sie eingehalten werden. Das ist eigentlich alles.

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