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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2023

Die staatskapitalistische Volksrepublik wird die USA nicht als Hegemonialmacht beerben können
von Tomasz Konicz

Die 2013 ins Leben gerufene »Neue Seidenstraße«, ein ehrgeiziges Investitionsprogramm Pekings in Entwicklungs- und Schwellenländern, sollte eine Ära chinesischer Hegemonie einleiten. Mehr als eine Billion US-Dollar veranschlagte Peking für dieses strategische Entwicklungsprogramm.

Der infrastrukturelle Entwicklungsschub, den der Aufbau von Kraftwerken, Schienenwegen oder Straßen in den »Entwicklungsländern« auslösen sollte, sollte mit einer engen strategischen Anbindung dieser Länder an China einhergehen. Peking würde durch kreditfinanzierte wirtschaftliche Entwicklung in vielen Regionen Asiens, Afrikas und selbst Lateinamerikas geopolitische Dominanz gewinnen.
?In den meisten Regionen des globalen Südens ist China längst zur führenden Handelsmacht aufgestiegen, nun würde auch zum wichtigsten Kreditgeber und strategischen Partner werden.

Bis Ende 2021 hat die Volksrepublik laut Financial Times (FT) umgerechnet 838 Milliarden Dollar in dieses ehrgeizige Entwicklungsprogramm investiert, das China zum »größten bilateralen Kreditgeber der Welt« machte. In den 74 Staaten, die von der Weltbank als Niedriglohnländer qualifiziert werden, vergab Peking mehr Kredite als alle weiteren »bilateralen Gläubiger zusammengenommen«.
Die Belt and Road Initiative, wie die Initiative im Englischen heißt, sei das »größte transnationale Infrastrukturprogramm«, das jemals von einem einzelnen Land in Angriff genommen wurde. Selbst der Marshall-Plan, dessen Aufwendungen heutzutage rund 100 Milliarden Dollar entsprechen würden, verblasst angesichts der Dimensionen der »Neuen Seidenstraße«.
Eben dieses gigantische Investitionsprogramm beschert China nun seine erste große internationale Schuldenkrise. Laut Berechnungen von US-Denkfabriken sollen chinesische Kredite in Höhe von rund 118 Milliarden Dollar von Zahlungsausfall bedroht sein, was in etwa 16 Prozent der gesamten Investitionen im Rahmen der »Neuen Seidenstraße« entspricht. Betroffen seien Länder in Afrika, Südasien und Lateinamerika, die durch den jüngsten, durch die Pandemiebekämpfung initiierten Krisenschub ökonomisch zurückgeworfen worden seien.
In den Pandemiejahren 2020 und 2021 musste Peking die Modalitäten von Auslandskrediten im Wert von 52 Milliarden Dollar neu verhandeln – vor Ausbruch der Pandemie waren es lediglich 16 Milliarden Dollar. Dabei geht es um Teilabschreibungen der Kreditsumme, um Zahlungsverzögerungen oder um Zinsabsenkungen.
Zudem müsse Peking immer öfter Notkredite vergeben, um die Zahlungsfähigkeit seiner Schuldner in der Peripherie des Weltsystems aufrecht erhalten zu können. China sehe sich bei vielen kreditfinanzierten Großinvestitionen zunehmend in einer »Rolle, die gewöhnlich vom Internationalen Währungsfonds IWF« übernommen wird.
Ironischerweise hat ausgerechnet der IWF, dessen Krisenkredite dekadenlang mit drakonischen Austeritätsmaßnahmen verknüpft waren, Mitte Juli China und weitere Gläubiger dazu aufgerufen, den strauchelnden Schuldnerländern Zugeständnisse zu machen, da weite Teile des globalen Südens angesichts einer dramatischen Schuldenkrise zu kollabieren drohen – »ein Drittel der Schwellenländer und zwei Drittel der Entwicklungsländer«. Inzwischen sei Peking zu einem »ernst zu nehmenden Konkurrenten für den IWF« aufgestiegen.

Geopolitische Dimensionen der Investitionen
Allein die drei größten Schuldner Pekings – Pakistan, Sri Lanka und Argentinien – haben seit 2017 Rettungspakete in Höhe von 32,8 Milliarden Dollar erhalten. Die Liste der Länder, die von Peking durch Krisenkredite stabilisiert werden mussten, umfasst unter anderem Kenia, Venezuela, Angola, Nigeria, Laos, Belarus, Ägypten, die Türkei und die Ukraine. Zumeist wurde durch diese Notkredite die Insolvenz von Infrastrukturprojekten verhindert, die im Rahmen der Neuen Seidenstraße finanziert wurden.
Die geopolitische Komponente der chinesischen Investitionsstrategie wird vor allem an der hohen Kreditvergabe im postsowjetischen Raum deutlich, wo Peking gut 20 Prozent seiner für die »Neue Seidenstraße« vorgesehenen Mittel investierte. Mit 125 Milliarden Dollar ist der größte Teil der chinesischen Kredite an Russland geflossen, gefolgt von Belarus mit 8 Milliarden und der Ukraine mit 7 Milliarden. Diese gigantischen Investitionen Pekings sind nun durch den Krieg in der Ukraine bedroht.
Einen weiteren Schwerpunkt chinesischer Investitionstätigkeit bildet das subsaharische Afrika, wohin die Volksrepublik laut westlichen Schätzungen Kredite im Umfang von rund 78 Milliarden Dollar vergab. Dies entspricht zwar nur rund 12 Prozent der Auslandsschulden der größtenteils ökonomisch abgehängten Weltregion, da westliche private Kreditgeber immer noch mit 35 Prozent der Gesamtschulden dominieren, doch konnte China in den letzten Jahren hier Boden gutmachen.
China ist in der Region als Kreditgeber gefragt, da die Kreditkonditionen Pekings weitaus günstiger sind als die Auflagen westlicher Institutionen. Die Zinsen für westliche Kredite sollen doppelt so hoch sein wie die Darlehen, die von der Volksrepublik vergeben werden.
China ist als Gläubiger auch deshalb populärer als der IWF, weil die Volksrepublik laut FT ihre Schuldnerstaaten »mit immer neuen Notkrediten über Wasser hält«, ohne von den Schuldnern die »Wiederherstellung wirtschaftspolitischer Disziplin« oder die Durchführung jener berüchtigten »Restrukturierungsprozesse« zu verlangen, mit denen der Währungsfonds seit den Schuldenkrisen der 80er Jahre weite Teile der Peripherie des Weltsystems ökonomisch verheerte.
Und es sind nicht nur entwicklungspolitisch unsinnige, von Korruption zerfressene Prestigeprojekte (wie in Sri Lanka), die in Afrika realisiert werden. Chinesisches Kapital finanzierte etwa eine Eisenbahnstrecke in Äthiopien, die die Reisezeit zwischen der Hauptstadt und dem benachbarten Dschibuti von drei Tagen auf 12 Stunden verkürzte; eine neue Strecke in Kenia zwischen Mombasa und Nairobi; eine neue Bahnverbindung zwischen Tansania und Sambia; Staudämme in Uganda; Straßen und Infrastrukturprojekte zur Wasserversorgung und Elektrifizierung…
Doch stoßen selbst die entwicklungspolitisch sinnvollen Projekte aufgrund der global zunehmenden Krisentendenzen immer öfter an ihre ökonomischen Grenzen. Inzwischen soll China die mit weitem Abstand meisten ausfallgefährdeten Kredite im subsaharischen Afrika akkumuliert haben. Mehr als hundert Kreditvereinbarungen mussten in dieser Region neu verhandelt werden, während es in Asien 21, in Lateinamerika nur 12 waren.

Die Illusion einer nachholenden Entwicklung
Außerhalb Afrikas und des postsowjetischen Raums ist es Pakistan, das in den letzten Jahren einen besonders raschen Zufluss chinesischer Investitionen verzeichnete. Hier erstreckte sich die Investitionstätigkeit Pekings von Infrastrukturprojekten, bei denen Mittel in Energieerzeugung und Transportwesen flossen, über den strategisch wichtigen Ausbau des Hafens in Gwadar bis zum Aufbau von Produktionsstätten, »verlängerte Werkbänke«, in die arbeitsintensive Fertigungstätigkeiten ausgelagert wurden.
Pakistans Hoffnung auf eine kapitalistische Modernisierung zerplatzte spätestens 2020, da nach dem Ausbruch der Pandemie und dem daraus resultierenden ökonomischen Krisenschub ein Teil der chinesischen Investitionsvorhaben auf Eis gelegt wurde, da die Schuldenlast untragbar wurde. Die Arbeiten am Hafenprojekt in Gwadar sollen weitgehend eingestellt worden sein. Um einen Staatsbankrott zu verhindern, musste Islamabad auf Notkredite des IWF wie Chinas zugreifen – im Juli 2022 reichten die Devisen Pakistans nur, um die Kosten der Importe für gerade mal zwei Monate zu decken.
Anfang August schien zumindest die akute Staatspleite abgewendet. Doch dann kam die historisch beispiellose Flut. Rund ein Drittel der Landesfläche Pakistans stand unter Wasser, mehr als 33 Millionen Menschen waren betroffen. Ersten Schätzungen zufolge belaufen sich die Schäden auf rund 10 Milliarden Dollar. Dem Land droht nun eine Hungerkrise und zunehmender Extremismus, während die Wirtschaft vor dem Kollaps steht.

Ein neues Hegemonialsystem ist unmöglich
Die immer öfter sich manifestierende Wechselwirkung von Schuldenkrise und Klimakrise bezeichnet die innere und äußere Schranke der Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus. Die sich immer höher auftürmenden globalen Schuldenberge und die eskalierende Klimakrise machen Peking einen Strich durch die imperiale Rechnung.
Washingtons hegemonialer Aufstieg nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschah vor dem Hintergrund der langen fordistischen Aufschwungsperiode der 50er und 60er Jahre. Die USA konnten im »Kalten Krieg« nicht zuletzt deswegen zur unumschränkten und akzeptierten Führungsmacht des »Westens« aufsteigen, weil der lang anhaltende konjunkturelle Boom Washington in die Lage versetzte, seinen Verbündeten ökonomische Entfaltungsspielräume einzuräumen.
China hingegen muss in einem krisengeplagten Weltsystem operieren, in dem das enorme globale Produktivitätsniveau der warenproduzierenden Industrie zu einer systemischen Überproduktionskrise geführt hat, die beständig steigende Schuldenberge zur Folge hat, da das hyperproduktive System faktisch auf Pump läuft. Das Fehlen eines neuen Leitsektors und Akkumulationsregimes führt überdies zu einer zunehmenden Exportfixierung der Wirtschaftspolitik und damit korrespondierenden Handelskriegen. Das vor allem von der BRD perfektionierte Streben nach Exportüberschüssen im Rahmen dieser Beggar-thy-neighbor-Politik, mit der die systemische Überproduktionskrise faktisch »exportiert« werden soll, ist Quelle permanenter zwischenstaatlicher Spannungen der abstiegsbedrohten »Wirtschaftsstandorte«.
Daraus resultieren auch die Hürden, die sich dem Aufbau eines Hegemonialsystems in der derzeitigen Weltkrise des Kapitals in den Weg stellen. Hegemonie, also eine von den untergeordneten Mächten eines Machtsystems akzeptierte oder tolerierte Führungsstellung, ist nur noch um den Preis der Kreditfinanzierung denkbar, da es hierfür kein ökonomisches Fundament in Gestalt eines neuen Akkumulationsregimes gibt.

Veränderte Stellung in der Weltwirtschaft
Chinas Devisenreserven sind laut FT von 4 Billionen auf 3 Billionen US-Dollar geschrumpft, die Kreditvergabe Pekings im Ausland soll ebenfalls massiv eingebrochen sein. Versiegen aber die großzügigen Finanzströme Pekings, die vormals die Konjunktur in Afrika und Asien stimulierten, verschärft sich der Krisenschub in der Peripherie des Weltsystems noch zusätzlich.
China kann kurzfristig über etliche Jahre Kredite vergeben und damit Einfluss gewinnen, aber es kann aufgrund des hohen globalen Produktivitätsniveaus keinen neuen Leitsektor aus dem Boden stampfen, der massenhaft Lohnarbeit in der Warenproduktion verwerten würde.
Und China ist als Teil des Weltsystems selbst von der Weltkrise des Kapitals betroffen. Auch China ist darum bemüht, möglichst hohe Exportüberschüsse auf Kosten der Konkurrenz zu erzielen, was einer Hegemoniebildung entgegenwirkt. Aufgrund der schwelenden Schuldenkrise im Immobiliensektor und der pandemiebedingten Konjunkturabkühlung in China selbst gewinnen Exportüberschüsse, auch für Peking, immer mehr an wirtschaftspolitischem Gewicht. Allein im vergangenen Juni konnte China einen Handelsüberschuss von 98 Milliarden Dollar erzielen – ein neuer Rekordwert!
Anstelle des Aufbaus eines Hegemonialsystems, bei dem auch die Nachbarländer Chinas ökonomisch vom Aufstieg der Volksrepublik profitierten, stehe nun ein knallharter Kampf um Marktanteile an, schreibt die Nachrichtenagentur Reuters, da man sich in einer Welt befinde, in der »die absolute Nachfrage« falle und es »brutale Preiskriege« um Anteile an dem »schrumpfenden Kuchen« geben werde.

Chinas Immobilienblase
Nach dem Platzen der Immobilienblasen in den USA und Europa im Jahr 2008, dem global mit enormen Konjunkturmaßnahmen begegnet wurde, hatte sich das chinesische Akkumulationsmodell fundamental geändert. Durch etliche Konjunkturpakete entfachte Peking einen massiven staatlichen Nachfrageschub, der die chinesische Wirtschaft 2009 sogar zur globalen Konjunkturlokomotive machte.
Die chinesische Konjunkturdynamik änderte dadurch ihre Richtung: Der Export verlor an Gewicht, nunmehr bildeten die kreditfinanzierte Bauwirtschaft, die Infrastruktur und der Immobiliensektor die zentralen Triebkräfte des Wirtschaftswachstums.
In einer Studie, die sich mit dieser Spekulationsdynamik befasst, gelangte der US-Ökonom Kenneth ­Rogoff zu der Einschätzung, dass Chinas Bau- und Immobiliensektoren rund 29 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) generieren.
Die exportgetriebene Modernisierung Chinas mit ihrem Schuldenexport, der die USA zeitweise zum größten Gläubiger der Volksrepublik machte, hat sich in eine staatlich befeuerte Defizitkonjunktur gewandelt.
Sie hat eine gigantische Immobilienblase hervorgebracht – im Sommer 2021 stand einer der größten Immobilienkonzerne Chinas, Evergrande, am Rande des Bankrotts. Der Konzern hat Schulden im Umfang von 300 Milliarden Dollar angesammelt, 20 Milliarden davon bei ausländischen Investoren; er wurde Anfang 2022 mittels eines »Restrukturierungsprogramms« vom chinesischen Staat vor der Pleite bewahrt. Im Inland warten mehr als 1,5 Millionen Immobilienkäufer darauf, dass die auf 500 Baustellen geplanten und ­bezahlten Wohnungen fertiggestellt werden.
Ginge es bei dem Baufieber tatsächlich darum, Menschen mit Wohnraum zu versorgen, wäre Chinas Immobilienmarkt schon längst saturiert. Inzwischen sind in Peking, Shanghai und Shenzhen aber mehr als 40 durchschnittliche Jahreseinkommen notwendig, um eine Immobilie zu erwerben – in London sind es 22, in New York sogar »nur« 12. Das Debakel um Evergrande bildet somit nur die Spitze des Eisbergs.
Der autoritäre chinesische Staatskapitalismus teilt mit seiner westlichen Konkurrenz eine grundlegende Krisentendenz: er läuft auf Pump. 2020 beliefen sich alle in China akkumulierten Verbindlichkeiten (Staat, Privatsektor, Finanzsphäre) auf rund 317 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), das liegt nur noch knapp hinter dem globalen Durchschnittswert von 356 Prozent.
Ein gigantischer Schuldenberg soll auch auf den Kommunen Chinas lasten, laut Goldman Sachs summiert er sich auf 8,2 Billionen US-Dollar, das wären rund 52 Prozent des BIP der Volksrepublik. Somit muss sich Chinas Führung nicht nur mit einer äußeren, sondern auch mit einer inneren Schuldenkrise auseinandersetzen, die frappierend der 2008 geplatzten Immobilienblase im Westen ähnelt.
Bislang hat es Peking durch immer neue Interventionen und Finanzspritzen vermocht, das Platzen dieser Blase zu verzögern, doch irgendwann wird der Entwertungsprozess unweigerlich vonstattengehen müssen – zumal der politische Fallout zunimmt: Zuletzt kam es in Zhengzhou, der Hauptstadt der zentralchinesischen Provinz Henan, zu Zusammenstößen zwischen Polizeikräften und geprellten Bankkunden, die gegen das Einfrieren ihrer Konten demonstrierten, nachdem die lokalen Banken in einen Skandal verwickelt und in Schieflage geraten waren.
Überdies musste sich die Kommunistische Partei Chinas mit einem Hypothekenstreik herumplagen: unzufriedene Immobilienkäufer stellten massenhaft ihre Hypothekenzahlungen ein, da sie immer noch auf die Fertigstellung ihrer Wohnungen warten.

Tomasz Konicz ist freiberuflicher Journalist und schreibt u.a. für Konkret. Quelle (mit freundlicher Genehmigung des Autors): oekumenisches-netz.de, 18.Oktober 2022.

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