Ernest Mandel zum 100.Geburtstag (5.April)
von Ingo Schmidt
Ernest Mandel: Der Spätkapitalismus. Versuch einer marxistischen Erklärung. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1972. 541 S., antiquarisch noch zu haben
In Der Spätkapitalismus (dt., 1972) versucht sich Ernest Mandel an der Entzauberung des »Wirtschaftswunders«, d.h. des langen Aufschwungs, der dem »Zeitalter der Katastrophen« (Eric Hobsbawm) von 1914 bis 1945 folgte.
Treffend sagte Mandel das Ende dieses Zyklus sowie eine Verschärfung der Klassenkämpfe voraus. Ganz selbstverständlich dachte er dabei an Klassenkämpfe von unten und ging wie selbstverständlich davon aus, dass die Arbeiterbewegung den Sieg davontragen würde. Aber sie wurde erneut geschlagen.
Die in den 80er Jahren beginnende Verjüngungskur des Kapitalismus ging mit einer Schwächung linker Bewegungen und dem Aufstieg postmarxistischer Ideen unter den verbleibenden Linken einher. Die empirisch ein ums andere Mal widerlegte Behauptung der Marxisten, kapitalistische Krisen würden zum Aufschwung proletarischer Klassenkämpfe führen, trug das Ihre zur postmarxistischen Wende bei. Zu einem Wiedererstarken linker Bewegungen hat der Postmarxismus allerdings auch nicht beigetragen. Und der auf die Niederlage der Arbeiterbewegung in den 80er Jahren folgende, erneute Aufschwung des Kapitalismus auch längst vorüber.
Es ist also Zeit für eine neuerliche Umorientierung. Dabei kann die Lektüre alter Bücher hilfreich sein. Nicht, weil darin schon alles steht, sondern weil die kritische Analyse des Nachkriegsaufschwungs eine Kontrastfolie liefert, vor der sich die Entwicklung des nachfolgenden neoliberalen Kapitalismus und seiner Krise in einer Weise verstehen lässt, die historische Entwicklungen und Ansatzpunkte für sozialistische Politik erkennbar machen.
Von der Industriegesellschaft zur IT-Wirtschaft?
Die neoliberale Ideologie grenzt eine technologisch überholte, dazu von Staatsintervention strangulierte Industriegesellschaft von einer nachfolgenden Ära des Abschüttelns staatlicher Fesseln, permanenter Computerrevolutionen und der Internationalisierung von Produktion, Handel und Finanzen ab. Beim Lesen des Spätkapitalismus wird allerdings deutlich, dass die mikroelektronische Revolution bereits während des Nachkriegsaufschwungs eine Triebkraft der Akkumulation war, dass ihre technologischen Grundlagen keineswegs von Pionierunternehmern der Garage, sondern in staatlichen, eng mit der Rüstungsindustrie verbundenen Laboren entwickelt wurden.
Auch die Entstehung multinationaler Konzerne und internationaler Kapitalistenverbände lässt sich mindestens bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgen. Weit davon entfernt, die Konkurrenz zwischen Unternehmen zu verschärfen, ging die Internationalisierung der Wirtschaft mit fortschreitender Konzentration und Zentralisation des Kapitals einher.
Dennoch wäre es falsch, die Unterschiede zwischen dem Nachkriegsaufschwung und der folgenden neoliberalen Welle der Akkumulation zu übersehen. Wie es auf gut marxistisch heißt, schlägt Quantität in Qualität um: Die Miniaturisierung von Computerchips und die dramatisch sinkenden Kosten der Übertragung pro Dateneinheit erlaubten Aufbau und Management internationaler Produktionsnetzwerke als Alternative zu immer größeren Fabriken, die sich in der Vergangenheit als Organisationszentren der Arbeiterbewegung erwiesen hatten. Der Aufbau dieser Netzwerke erlaubte es dem hochkonzentrierten Kapital, kleinere Produktionsstätten gegeneinander auszuspielen.
Nicht die Unterschiede in der Arbeitsproduktivität zwischen Zentren und Peripherien, die Mandel als Ursache des ungleichen Tausches ausgemacht hatte, wurden zur Hauptquelle des ungleichen Tauschs, sondern die Hungerlöhne, sprich: Überausbeutung in der Peripherie. Im Gegensatz zur Nachkriegszeit wurden die Früchte dieser Ausbeutung aber nicht mehr zwischen Arbeit und Kapital in den Zentren geteilt. Wie groß der Druck auf die Löhne in den Zentren auch wurde, die Lohndifferentiale zwischen Zentren und Peripherie blieben bestehen. Die Löhne haben sich weder im globalen noch im nationalen Maßstab angeglichen. Die Lohnunterschiede sind heute innerhalb und zwischen einzelnen Ländern größer als zu Zeiten des sozialstaatlich eingehegten Nachkriegskapitalismus.
Vom Staat zum Markt?
Während des Nachkriegsaufschwungs galt Staatsintervention als das endlich gefundene Mittel, um wiederkehrende Wirtschaftskrisen und vor allem die damit einhergehende politische Destabilisierung zu verhindern, die den Kapitalismus in den 1930er Jahren an den Rand des Zusammenbruchs geführt hatten. Über die Garantie privater Eigentumsrechte hinaus sollte der Staat mit den Mitteln der Geld- und Fiskalpolitik die gesamtwirtschaftliche Nachfrage auf einem Niveau nahe der Vollbeschäftigung stabilisieren. Die Wissenschaft sollte nicht nur der Entwicklung neuer Produktionstechniken, sondern auch der »Programmierung der wirtschaftlichen Entwicklung« dienen. Der auf die Politik ausgeweitete technologische Rationalismus würde zur Überwindung der Klassengegensätze führen, die den vorangegangen, politisch nicht regulierten Kapitalismus geprägt und destabilisiert hätten.
Mandel zeigt, dass die Politik im Nachkriegskapitalismus in großem Umfang an den täglichen Geschäften beteiligt war. Diese Rolle hatte sie bereits in den Kriegswirtschaften 1914/18 und 1939/45 einstudiert. Er zeigt aber auch, dass die Richtung der Kapitalflüsse und -investitionen weiterhin von den großen Konzernen und Unternehmerverbänden bestimmt wird. Und er argumentiert, dass profitable Anlagebedingungen und Vollbeschäftigung sich in einer kapitalistischen Wirtschaft nicht dauerhaft unter einen Hut bringen lassen. Entsprechende Versuche würden erst zu einer permanenten Inflation führen, die sich schließlich beschleunigen und zu einem Ende der staatlichen Nachfragestabilisierung führen werde. Ein zunehmend international agierendes Kapital lasse sich zudem nicht auf nationaler Ebene einhegen.
Retter und Buhmann
Mit dieser Argumentation nahm Mandel viele der unmittelbar nach Erscheinen seines Buchs einsetzenden Entwicklungen vorweg. Die Inflationsraten stiegen. Ein hohes Beschäftigungsniveau ermöglichte eine Verteilungskampfinflation. Gewerkschaftlich organisierte Arbeiter versuchten, über Lohnverhandlungen eine Umverteilung von Profiten zu Arbeitseinkommen durchzusetzen, Unternehmen suchten ihre Profitmargen gegen die Gewerkschaften zu verteidigen. Die auch im politisch regulierten Kapitalismus fortbestehende Macht des Kapitals gegenüber dem Staat wurde deutlich, als jenes einen Kurswechsel in der Inflationsbekämpfung durch Austerität und Wiederherstellung einer industriellen Reservearmee durchsetzen konnte. Dabei wurde die weitere Internationalisierung der Wirtschaft zum Hebel für die Senkung von Unternehmens- und Gewinnsteuern und sozialer Standards.
Der Kurswechsel vom politisch moderierten Interessenausgleich zwischen Arbeit und Kapital zur Förderung der Profite um jeden Preis ging nicht mit einer Entstaatlichung der Wirtschaft einher. Der Einfluss von Gewerkschaften und Sozialverbänden wurde zurückgedrängt, Unternehmen und zunehmend Börsianer nahmen immer direkter Einfluss auf die Politik.
Arbeitslosigkeit und Standortkonkurrenz schwächten die Gewerkschaften so sehr, dass Profitmargen auch ohne steigende Preise auf den Gütermärkten hochgehalten werden konnten. Dafür verlagerte sich die permanente Inflation auf die Wertpapiermärkte und beschleunigte sich bis zum Platzen einer Reihe von Spekulationsblasen – am dramatischsten in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009. In deren Folge forderte das Kapital den Staat offen zu massiven Eingriffen auf. Um Banken und Vermögenswerte zu retten, wurden Steuer- und Zentralbankgelder in einem Umfang mobilisiert, die dem Sozialstaat auch in seiner Blütezeit nicht zur Verfügung gestanden hatten.
Damit schließt sich der Kreis zu Mandels Analyse des Spätkapitalismus und seiner Krisenprognose. In gewisser Weise hatte Mandel eine Legitimationskrise des Kapitalismus erwartet. Nach den Krisen der 1970er Jahre, aber auch 2008/2009 wurde vor allem der Staat zur Zielscheibe der Kritik, gerade auch in den Bevölkerungsschichten, die vom Kapital als nicht wettbewerbsfähig eingestuft werden. Die Kritik am Staat ist immer lauter geworden, die Kritik am Kapitalismus dagegen randständig geblieben. Nicht zuletzt, weil Linke sich weitgehend von ökonomischen Fragen abwandten, nachdem sich die Hoffnung, die Krise würde mehr oder minder automatisch zum Aufschwung der Klassenkämpfe von unten führen, in den 70er Jahren zerschlagen hatte.
Ingo Schmidt ist marxistischer Ökonom und lebt in Kanada und in Deutschland.
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