Zum Andenken an Roman Rosdolsky (1898–1967)
von Angela Klein
Vor 175 Jahren erschütterten revolutionäre Erhebungen die europäischen Kernlande, die die Grundfesten der 1815 auf dem Wiener Kongress restaurierten Feudalordnung ins Wanken brachte. Danach setzte auch in Mitteleuropa ein Prozess der Nationalstaatsbildung ein, der erst nach dem Ersten Weltkrieg einen (vorübergehenden) Abschluss fand.
Den Auftakt machte am 23.Februar das aufständische Proletariat und Bürgertum in Paris; es folgte am 1.März Baden; am 4.März Bayern; am 6.März Berlin; am 13.März Wien; am 15.März Ungarn; am 17.März Mailand (Erhebungen gegen die spanischen Bourbonen in Süditalien hatten bereits im Januar stattgefunden); am 23.März Venedig; im April Posen; am 12.Juni Prag.
Marx und Engels veröffentlichten in London, zeitgleich mit dem Februaraufstand in Frankreich, das »Kommunistische Manifest«, in dem sie die weltumspannende Durchsetzung des Kapitalismus prognostizieren, aber auch den Sieg seines Totengräbers, des Proletariats. Der nationalen Borniertheit hielten sie entgegen: »Die Arbeiter haben kein Vaterland.« Das hinderte sie nicht daran, die Aufstände der Ungarn, Polen und Italiener für ihre nationale Unabhängigkeit von Habsburg und Preußen als Bundesgenossen zu feiern, obwohl die ersten beiden von Vertretern des Adels angeführt wurden.
Im agrarisch dominierten Osten und Südosten Europas, wo sich noch kein eigenständiges Bürgertum hatte herausbilden können und die Einheimischen eine Masse von analphabetischen, halbleibeigenen Bauern bildeten, die zum Teil eine andere Sprache sprachen und in eine andere Kirche gingen als ihre Grundherren, sah die Sache jedoch anders aus. Hier wurden die tschechischen, serbischen, kroatischen, ruthenischen Bauern ebenfalls von der Bewegung erfasst und revoltierten gegen ihre Grundherren. Aber diese waren keine Österreicher, sondern Polen oder Ungarn; dass die Bauern ihnen gegen den Kaiser zu Hilfe kommen sollten, sahen diese nicht ein – sie waren durch die Bank »gut kaiserlich« gesinnt, zumal nachdem der österreichische Reichstag die Aufhebung der Erbuntertänigkeit der Bauern beschlossen hatte. Die Zentralregierung in Wien konnte unter ihnen deshalb mühelos Soldaten anwerben, um die Aufstände im Habsburgerreich niederzuschlagen. Traurige Berühmtheit erlangte dabei der kroatische Ban (Markgraf) Jelacic. Gegen die Ungarn freilich reichte das nicht; da musste Wien den russischen Zaren zu Hilfe rufen.
Engels’ Reaktion
Engels war über diese Entwicklung zutiefst erbittert, hatten diese »geschichtslosen Völker«, wie er die Serben, Kroaten, Rumänen, Tschechen, Ruthenen und Siebenbürger Sachsen nannte, doch die Niederlage der Revolution mit herbeigeführt. In Artikeln für die Neue Rheinische Zeitung erklärte er deren Verhalten allerdings nicht aus ihrer Klassenlage heraus, wie es sich für einen Urvater der materialistischen Geschichtsauffassung gehört hätte, sondern aus ihrem »reaktionären Charakter«. In Österreich »[teilten sich] die Streitenden … in zwei große Heerlager: auf der einen Seite, der Revolution, die Deutschen, Polen und Magyaren; auf der Seite der Konterrevolution die übrigen: die sämtlichen Slawen mit Ausnahme der Polen, die Rumänen, die Siebenbürger Sachsen.« Weil nur die drei erstgenannten lebensfähig seien, seien auch nur sie »revolutionär«.
Die slawischen Völkern hielt er, mit Ausnahme der Polen, als eigenständige Völker nicht für lebensfähig, weil sie kein eigenes Bürgertum hervorgebracht hätten (das entweder deutsch oder ungarisch war). Sie hätten deshalb keinen eigenen Staat bilden können und seien mit der Zeit dem assimilierenden Einfluss ihrer Eroberer unterlegen – Völker ohne Geschichte… Als »sterbende Nationen«, »Völkertrümmer«, die ihre »historische Rolle für immer ausgespielt« haben, »werden [sie] jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Konterrevolution…« Er fordert daher »im Interesse der Revolution« »Kampf, unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod mit dem revolutionsverräterischen Slawentum« und eine »Allianz der revolutionären Völker gegen die konterrevolutionären«.
Engels weitete später dieses Urteil auch auf Völker wie die Gälen in Schottland, die Bretonen, die Basken aus, er sah hier ein allgemein-historisches Gesetz am Werk.
Rosdolskys Erklärung
Roman Rosdolsky war ein westukrainischer Marxist. Vor 125 Jahren in Lemberg geboren, stand er der Linken Opposition gegen Stalin nahe. In der Nachkriegszeit wurde er u.a. bekannt durch seine Kritik an der Nationalitätenauffassung von Marx und Engels, die er in seiner Schrift »Friedrich Engels und das Problem der geschichtslosen Völker«* ausführlich darlegte. Alle Zitate in diesem Artikel sind der deutschen Ausgabe entnommen.
»Die Theorie der ›geschichtslosen‹ Völker«, schreibt Rosdolsky, »ist allerdings lange tot.« Wie aber war es zu erklären, dass jemand wie Engels sie vertreten konnte?
Rosdolsky verweist auf die Ähnlichkeit mit Hegels Geschichtstheorie, wonach nur solche Völker Träger des geschichtlichen Fortschritts sein können, die in der Lage seien, ein kräftiges Staatswesen zu schaffen. Denn »der substantielle Zweck des Daseins eines Volkes« ist es, ein Staat zu sein; »ein Volk ohne Staatsbildung … hat keine eigene Geschichte«. Der Rückgriff auf diese Theorie habe nahegelegen, meint Rosdolsky. Denn in der 48er Revolution sei das deutsche Bürgertum ein Bündnis mit dem polnischen und ungarischen Adel eingegangen, der zugleich die Grundherrschaft über die anderen revoltierenden Voller ausübte, weshalb er deren Forderungen nicht hätte erfüllen können. Das war »die innere Schranke« der Revolution, schreibt Rosdolsky. Deshalb wurde die Konterrevolution zu ihrem Wesensmerkmal erklärt.
Es wäre dies allerdings eine Fußnote geblieben, hätte Engels nicht auch noch zwei bis drei Jahrzehnte später die slawischen Befreiungsbewegungen (die Polen immer ausgenommen!) strikt abgelehnt! »Erst wenn durch den Zusammenbruch des Zarentums die nationalen Bestrebungen dieser Völkerknirpse von der Verquickung mit panslawistischen Weltherrschaftstendenzen befreit sind, erst dann können wir sie frei gewähren lassen…«, schrieb er an Kautsky 1882.
Fatale Folgen
Engels war überzeugt, dass der Vormarsch des Kapitalismus zur restlosen Germanisierung bzw. Magyarisierung der slawischen Städte führen würde. Diese Fehlprognose, so Rosdolsky, muss »als die erste theoretische Formulierung jener Stimmungen bezeichnet werden, von denen lange Zeit hindurch die Kader des städtischen Proletariats der west-slawischen Länder durchdrungen waren«. Es ist daher kein Zufall, dass wir ähnlichen Fehlprognosen auch in der späteren Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder begegnen.
Nicht nur im deutschen, auch im polnischen und russischen Sozialismus! Rosdolsky zitiert etwa Rosa Luxemburg, die für die »Anmaßung« der litauischen Sozialdemokraten, eine selbständige litauische Republik schaffen zu wollen, nur Spott übrig hatte. Oder eine Broschüre aus dem Plechanow-Kreis mit dem Titel »Über die Ausweglosigkeit des ukrainischen Sozialismus in Russland«, der die ukrainische Bewegung als eine überflüssige, utopische Erfindung bezeichnete: »…der Einfluss der Kirche, des Stadtlebens und der Kultur – das sind die Faktoren, die auch sprachlich die ländliche Bevölkerung der Ukraine endgültig mit der Sphäre der Einflüsse, unter deren Einwirkung Rußland lebt, verschmolzen haben.«
Der Sekretär der ukrainischen KP in den 1920er Jahren, Lebedj, sprach vom Kampf zweier Kulturen in der Ukraine: »In der Ukraine ist die städtische Kultur die russische, die ländliche dagegen die ukrainische. Das Proletariat vertritt die städtische, die russische Kultur. Die Zukunft spricht für die Kultur des Proletariats, d.h. für die städtische, die russische Kultur.«
Solche Theorien finden sich bis heute im ukrainischen Diskurs über die nationalen Probleme im Land. Sie sind nicht einfach nur Ausfluss des russischen Imperialismus, sie sind zugleich der Ausdruck einer Geringschätzung der Bauernfrage.
Lenin
Lenin hat mit dieser Haltung während des Ersten Weltkriegs vollständig gebrochen. In einem seiner Artikel über die nationale Frage erklärte er die Haltung von Marx und Engels damit, ihnen sei es vor allem um den Kampf »gegen den Zarismus« gegangen. »Aus diesem Grund und nur aus diesem Grund waren Marx und Engels gegen die nationale Bewegung der Tschechen und Südslawen.« Obwohl er für das Selbstbestimmungsrecht dieser Völker einschließlich ihres Rechts auf Bildung eines eigenen Staates eintrat, teilte er jedoch eine wichtige Schlussfolgerung von Engels: »Wenn die konkrete Situation [wie 1848] … sich wiederholen sollte, z.B. in der Form, daß einige Völker die sozialistische Revolution beginnen … andere Völker sich aber als Stützpfeiler der bürgerlichen Reaktion erweisen sollten – so müßten auch wir für einen revolutionären Krieg gegen sie sein, für ihre ›Niederwerfung‹…« In der Ukraine hatte das fatale Folgen.
»Die äußerste Linke der Revolution von 1848«, schreibt Rosdolsky, »deren geistiger Führer die Neue Rheinische Zeitung war, [hat] die gewaltige Bedeutung der Bauernfrage in Österreich, die außerordentlichen Chancen, die sie bot, sowie die schweren Gefahren, mit denen sie sie bedrohte, nicht richtig einschätzen können. Man sucht in der NRhZ vergebens nach einer Analyse der österreichischen Agrarprobleme, nach einem konkreten Programm in der österreichischen Bauernfrage … Was die Bauernfrage in Ungarn und in Galizien anbelangt, so mußte die NRhZ … faktisch zum Sprachrohr der adligen Demokratie dieser Länder werden.«
*Roman Rosdolsky: Friedrich Engels und das Problem der »geschichtslosen« Völker (Die Nationalitätenfrage in der Revolution 1848–1849 im Lichte der »Neuen Rheinischen Zeitung«). In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. IV. Hannover 1964. S. 87–276. Herunterladbar auf:
http://library.fes.de/jportal/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00023186/afs-1964-087.pdf
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.