Ohne innere Veränderungen wird es keinen schnellen Wandel an der Front geben
Gespräch mit Witalyj Dudin
Witalyj Dudin ist Arbeitsrechtler und Vorsitzender von Sozialnyj Ruch [Soziale Bewegung]. Er lebt in Kiew. Ein Artikel von ihm über die Einschränkung der Arbeitsrechte erschien in SoZ 9/2022
Wie beurteilst du ein Jahr nach Beginn von Putins Invasion die Lage der Ukraine an der Front und die künftige Entwicklung?
Die ukrainische Armee leistet derzeit den russischen Truppen im Donbass Widerstand unter schweren Verlusten. Die allgemeine Lage ist ziemlich gefährlich wegen der Gefahr großangelegter Offensiven der russischen Besatzungsarmee an mehreren Frontlinien. Große Städte wie Saporischschja, Cherson und Charkiw werden bombardiert.
Die Kräfte der Ukraine und Russlands sind sehr ungleich. Die militärische und humanitäre Hilfe des Westens kann das Kräfteverhältnis nicht umkehren. Welche militärtechnische Unterstützung der Westen auch immer leisten mag, sie kann den Sieg der Ukraine hier und jetzt nicht garantieren. Daher beobachten wir die Ereignisse rund um Kreminna, Bachmut, Lyman und andere Städte in der Ostukraine mit großer Sorge.
Die militärische Bedrohung spielt für die Bevölkerung eine wichtige Rolle; viele Menschen, die das Land verlassen haben, werden es nicht eilig haben, dorthin zurückzukehren. Unter den derzeitigen Umständen hat die Ukraine aber keine andere Wahl, als die Zahl der zur Armee eingezogenen Personen zu erhöhen. Die Ukrainer lernen sehr leicht, mit den modernsten Waffen umzugehen, und das zeigt meiner Meinung nach, dass unsere Armee nicht nur mutig, sondern auch bereit ist, in einem sich verändernden Umfeld Neuerungen einzuführen. Ich denke, das ist eine Folge unseres entwickelten Systems von Bildungseinrichtungen.
Als linke Organisation behalten wir eine sehr kritische Haltung gegenüber unserer Regierung und bewerten ihre Entscheidungen danach, ob sie die Ukraine dem Sieg näher bringen oder nur den Interessen der herrschenden Klassen dienen. Schließlich stehen für uns die Fragen der Oligarchisierung der Macht und der Klassenwidersprüche im Mittelpunkt. Eine Diskussion über den sozialen Charakter der staatlichen Politik erscheint uns wichtiger als eine Diskussion über militärische Ereignisse und Entscheidungen, die den Verlauf des Krieges beeinflussen können.
Ist das Engagement der ukrainischen Arbeiterklasse, der Bürgerorganisationen, der Gewerkschaften in der Widerstandsbewegung noch aktiv und massiv?
Unser sozialpolitisches System unterscheidet sich stark von dem vieler europäischer Gesellschaften. Die Tradition der Selbstorganisation der Arbeiterklasse wurde während der Sowjetzeit zerschlagen. Nach 1991 gab es Versuche, die Stärke der Arbeiterklasse wieder aufzubauen und linke politische Aktivitäten unter den Bedingungen des politischen Pluralismus wiederzubeleben, aber alle diese Projekte wurden marginalisiert. Viele Parteien hatten geopolitische Orientierungen im Mittelpunkt ihres Programms. Nach dem Maidan und dem Beginn des von Russland entfesselten Krieges im Donbass wurden die bestehenden linken politischen Kräfte als prorussisch diskreditiert. Sie konnten nicht beweisen, dass für sie die Klasseninteressen und gesellschaftlichen Interessen an erster Stelle standen. Sozialnyj Ruch [Soziale Bewegung] geht deshalb in erster Linie von den Klasseninteressen der arbeitenden Bevölkerung aus.
Wir haben keine anerkannten linken Bewegungen, Anfang 2022 hatten wir keine linken Parteien im Parlament. Die Gewerkschaften besetzen eine Nische, ihr Einfluss ist begrenzt. Es gibt keinen sozialen Dialog im eigentlichen Sinne. Die Gewerkschaften können die Politik nur kritisieren, aber nicht beeinflussen. Sie würden nicht auf Streiks zurückgreifen. Es herrscht auch Verwirrung zwischen der Position der Unternehmer und der der Regierung.
Einen Pluralismus im europäischen Sinn kennt unser politisches System nicht. Die alten linken Parteien sind zusammengebrochen, neue konnten sich noch nicht durchsetzen. Das liegt daran, dass die Oligarchen die Zügel der Macht mit Gewalt an sich gerissen haben und nicht bereit sind, sie freiwillig aus der Hand zu geben. Die Gesetze, die nach 2014 zur Demokratisierung der Gesellschaft und Bekämpfung der Korruption verabschiedet wurden, haben den Zugang des Volkes zur Macht eher eingeschränkt. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Einführung von Bedingungen für die Gründung einer politischen Partei.
Die feministischen Bewegungen, die Umweltbewegungen und die Menschenrechtsbewegungen gibt es zwar, aber sie besetzen eine Nische. Es handelt sich in erster Linie um Bewegungen der Intelligenzija, der Mittelschicht, ihre Verbindung zu den Massen ist fraglich. Wir haben auch einen Anstieg rechtsextremer Gewalt erlebt, weil die extreme Rechte Unterstützer in der Regierung hat, aber ihr fehlt das Personal, das verantwortlich eine politische Kraft darauf aufbauen kann.
Das politische Feld ist extrem polarisiert: Entweder trägt man zum Sieg der Ukraine bei, indem man die Legitimität der Regierung anerkennt, oder man versucht, sich von ihren Hauptanliegen zu distanzieren und eine eigene Position durchzusetzen, dann sieht das in dieser Situation so aus, als würde man dem Aggressor in die Hände spielen.
Unter diesen Bedingungen konzentrieren sich alle Organisationen auf die praktischen Fragen des Überlebens: die feministischen Organisationen um Frauen, die vor dem Krieg geflüchtet sind; die Gewerkschaften um die Verteilung humanitärer Hilfe. Viele Anarchisten, Menschen mit radikal linken Überzeugungen und entschiedene Gegner des Imperialismus sind an die Front gegangen. Die Aktivsten von ihnen im Kampf gegen die extreme Rechte sind der Armee beigetreten, weil für sie die Abwehr der Aggression zur absoluten Priorität geworden ist. Folglich wurden Fragen wie die Entwicklung eines alternativen politischen Programms in den Hintergrund gedrängt.
Die öffentliche Debatte ist deshalb aber nicht zum Erliegen gekommen, und das ist ein großer Erfolg. Die Menschen haben immer noch Zweifel an der Richtigkeit bestimmter Entscheidungen der Behörden, etwa was die Korruption betrifft. Sie haben auch keine Angst, ihre Meinung zu äußern. Wir erkennen darin das emanzipatorische und freiheitsliebende Potenzial unserer Gesellschaft. Das Problem ist, dass diese Gedanken, Meinungen und Ansichten nicht in eine vereinte politische Kraft münden.
Wir versuchen, daran zu arbeiten. Wir glauben, dass sich die Ukraine in Richtung Demokratisierung und Sozialisierung entwickeln muss, nicht erst nach dem Krieg, sondern jetzt, um unsere Widerstandskraft und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Ohne innere Veränderungen kann die Ukraine nicht mit einem schnellen Wandel an der Front rechnen. Damit die Ukraine ihre Grenzen von 1991 wiederherstellen kann, muss das Land über ein großes wirtschaftliches, bildungspolitisches und wissenschaftliches Potenzial verfügen – was sie 1991 hatte. Die Europäische Union wird nicht für uns kämpfen, auch wenn sie sich als unseren Freund bezeichnet, sie denkt in erster Linie an ihre eigenen egoistischen Interessen.
Aber wenn die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes hier und jetzt durch die Vergesellschaftung der Wirtschaft erreicht wird, indem die Regierung unter die Kontrolle der Mehrheit der Arbeiter gestellt wird, dann wird auch weiterhin internationale Hilfe geleistet werden.
Die große Frage ist, wie und wann dieser Krieg enden wird.
Wir glauben, dass die Ukraine den endgültigen Sieg nur durch die unumkehrbare Vernichtung der russischen Armee, die in unser Territorium eingedrungen ist, erreicht werden kann. Wir machen uns keine Illusionen darüber, dass Russland unter dem Einfluss bestimmter Zugeständnisse eine Geste des guten Willens machen und seine Panzer abziehen würde.
Die Russische Föderation befindet sich in einer schwierigen Phase, eine schlichte Niederlage könnte das Regime Putins destabilisieren. Daher wird Putin alles in seiner Macht stehende tun, um den Krieg so lange wie möglich fortzusetzen.
Ich sehe mehrere Faktoren, die zu einer Niederlage von Putins Armee führen könnten:
Erstens die sozialistische Reorganisation der Ukraine. Wir müssen unsere Industrie und unsere Banken verstaatlichen und alle Ressourcen mobilisieren, um einen möglichst umfassenden und schnellen Sieg für die Ukraine zu erreichen. Die derzeitige neoliberale Politik der Ukraine ermöglicht es den Oligarchen, sich zu bereichern, dient aber nicht dem öffentlichen Interesse.
Zweitens muss die Ukraine ihre Legitimität auf internationaler Ebene steigern, indem sie ihre Zugehörigkeit zu den Ländern betont, die unter dem internationalen neoliberalen System und dem Imperialismus leiden. Die Forderung nach einem Erlass der Auslandsschulden sehen wir nicht nur als Mittel, um die sozialen Rechte unserer Bürger zu sichern, sondern auch als Signal an den Rest der Welt, dass die ungerechten Schulden bekämpft werden müssen. Dann wird, glaube ich, auch die Unterstützung der Ukraine durch Asien, Afrika und Lateinamerika zunehmen.
Drittens könnte der Krieg enden, wenn die russische Wirtschaft durch die Sanktionen besiegt wird.
Wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden, ist es meiner Meinung nach zu früh, von einem Sieg zu sprechen.
Die friedenspolitischen Maßnahmen, die Selenskyj angekündigt hat, verdienen Aufmerksamkeit. Sie zeigen deutlich den Willen, die Situation zu deeskalieren. Der Plan will rote Linien definieren, die die westlichen Länder nur ungern überschreiten werden. Die ukrainische Regierung versucht dennoch, eine friedensorientierte Haltung einzunehmen. Unser Präsident befürwortet keinen Krieg bis zum Endsieg, d.h. bis zum Zusammenbruch der Russischen Föderation. Solche populistischen Gefühle gibt es in der ukrainischen Gesellschaft, aber ich glaube nicht, dass Selenskyj geneigt ist, dieses Spiel zu spielen.
Das Interview führte die Zeitschrift der französischen NPA, L’Anticapitaliste, am 8.Februar 2023.
Quelle: http://europe-solidaire.org/spip.php?article65814.
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