Tarifrunden schlagen den Takt beim Kampf gegen die Inflation
von Violetta Bock
Zu Redaktionsschluss liegt der Showdown Ende März noch vor uns. Werden die Beschäftigten der Post erneut für einen Erzwingungsstreik stimmen? Werden die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und bei den Eisenbahnen den Druck soweit erhöhen, dass es schon zu Ergebnissen kommt. Oder steht nach dem lauen Herbst doch noch ein heißer Sommer in Deutschland bevor?
Während in England Tausende wegen der Inflation seit Monaten streiken, in Frankreich die Regierung Wasserwerfer und Tränengas gegen die Proteste gegen die Rentenreform einsetzt, gehen auch in Deutschland viele auf die Straße, damit die Inflation abgefedert wird. Hier findet dies bislang geordnet zu den Warnstreiktagen im Rahmen der Tarifrunden statt, von denen im Moment viele zusammenfallen.
Die Kolleg:innen bei Amazon können im April zehn Jahre Streik feiern. Auch wenn es bislang nicht zur Tarifbindung gereicht hat, konnten sie an vielen Standorten Verbesserungen durchsetzen, ohne dazwischen durch eine Friedenspflicht gebunden zu sein. Die Situation ist heute anders als vor zehn Jahren. Heute sind die Preissteigerungen das dominierende Thema, aber es fehlt nicht nur an an allen Ecken und Enden ausreichend Lohn, sondern auch Personal. Eigentlich gute Voraussetzungen für die Stärkung kämpferischer Gewerkschaften, um in Tarifautonomie höhere Löhne und bessere Bedingungen durchzusetzen.
Das größte Ei für nachhaltige Verbesserungen hat Olaf Scholz mit seinen Einmalzahlungen als Teil der Entlastungspakete ins Nest gelegt. Ähnlich wie bei vorangegangenen Beruhigungspillen soll mit der Möglichkeit einer Sonderzahlung von 3000 Euro netto tabellenwirksamen Erhöhungen entgegengewirkt werden. Bei den Tarifrunden von IG BCE und IG Metall hat dies in Teilen schon funktioniert. Nun sind die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und bei der Post dran.
Im Dienst und mit der Öffentlichkeit
Trotz der Ausgangslage sind die Unternehmer in den verschiedenen Branchen stur und setzen darauf, möglichst lange keine oder nur mickrige Angebote vorzulegen. Um Ergebnisse durchzusetzen, muss also im Eiltempo tatsächliche Organisierung und Handlungsfähigkeit hergestellt werden und es reicht nicht, nur Mitglieder zu haben. Ver.di hat in dieser Runde daher vermehrt auf Arbeitsstreiks gesetzt, um gezielt Mitgliedern zu ermöglichen, mit Kolleg:innen im öffentlichen Dienst ins Gespräch zu kommen. Sie haben hier unter den 2,5 Millionen betroffenen Beschäftigten knapp 340000 Unterschriften gesammelt, welche die Kampfbereitschaft demonstrieren.
Die Warnstreiks seit Ende Januar waren der nächste Schritt im Kräftemessen. Die Stimmung an den verschiedenen Streiktagen ist gut. Im öffentlichen Dienst wurden im März die verschiedenen Berufsgruppen vereinzelt aufgerufen. So konnte der Fokus auf die jeweilige gesellschaftliche Relevanz gelegt und einmal mehr darin erinnert werden, wem in der Corona-Zeit noch heuchlerisch geklatscht wurde. Just am Tag des globalen Klimastreiks Anfang März gingen 60000 Beschäftigte des ÖPNV in sechs Bundesländern auf die Straße und suchten den Schulterschluss mit Fridays for Future.
Eine Woche darauf legten bundesweit 70000 Kolleg:innen aus den sozialen Berufen ihre Arbeit nieder und verbündeten sich mit den Aktiven des Internationalen Frauenkampftags. Denn immer noch sind über 80 Prozent der Beschäftigten im sozialen Bereich weiblich und die Besetzung der 270000 fehlenden Stellen allein in den Kitas wird nur bei besseren Arbeitsbedingungen gelingen. Noch eine Woche später gingen über 30000 Gesundheitsarbeiter:innen auf die Straße. Ebenso streikten Stadtreinigung und viele weitere Bereiche des öffentlichen Dienstes. Doch gerade in den drei erstgenannten ist es gelungen, Bündnisse zu beginnen. Mit zweistelligen Prozentforderungen und einem Mindestbetrag hat Ver.di seit Jahresbeginn den größten Mitgliederzuwachs in so kurzer Zeit erreicht: 63000 Mitglieder sind der Gewerkschaft beigetreten.
Die Reaktion der Unternehmer zeigt, dass sie die Politisierung und Einbettung in gesellschaftliche Fragen fürchten. Gerade die Nahverkehrsstreiks führten dazu, dass die Debatte um das Streikrecht erneut entflammte. Besonders die CDU-Mittelstandsunion und Bundesverband der Arbeitgeber forderten Änderungen in Bereichen der kritischen Infrastruktur: verbindliche Schlichtungsverfahren, Sicherstellung der Grundversorgung, frühzeitige Ankündigung, mehrheitliche Abstimmung, bevor es überhaupt zur Arbeitsniederlegung kommt – das würde das Streikrecht aushebeln. Anders als bei vorangegangenen Tarifrunden kommen sie damit nicht direkt durch. Laut ARD Deutschlandtrend hat eine Mehrheit (52 Prozent) Verständnis für die Forderungen der Gewerkschaft, 8 Prozent davon halten sie sogar für nicht weitgehend genug. Unter den Erwerbstätigen ist das Verständnis sogar noch höher.
Vorbote Post?
Bei der Post kam es im März zu einer überraschenden Wendung. Mehr als 70000 beteiligten sich an Warnstreiks für 15 Prozent bei einer Laufzeit von 12 Monaten. Die Post AG ging jedoch trotz Gewinn von 8,4 Milliarden Euro in 2022 wenig auf die Forderungen ein. In einer Urabstimmung stimmten daraufhin 85,9 Prozent für einen unbefristeten Streik. Es sei daran erinnert, dass der letzte Streik 2015 für viele mit einer Enttäuschung endete und Ver.di erst wieder Vertrauen aufbauen musste.
Dass es diesmal überhaupt zu einer Urabstimmung kam, ist ein kleiner Erfolg für die Gewerkschaft, er kann jedoch ebenso schnell verspielt werden. Für viele kam es überraschend, dass statt einer zügigen Vorbereitung der Streiks die Konzerntarifkommission erneut in Verhandlungen ging und ein Ergebnis zur Annahme empfahl: 1020 Euro Einmalzahlung (netto) im April 2023, Mai 2023 bis März 2024 monatlich eine Sonderzahlung zum Inflationsausgleich von 180 Euro netto und erst ab April 2024 eine tabellenwirksame Festbetragserhöhung von 340 Euro. Auch wenn der Festbetrag ein Fortschritt ist, gerade auch für Azubis, und das Ergebnis schnell Bargeld auf die Hand bedeutet – es ist weit von der ursprünglichen Forderung entfernt.
Einige Vertrauensleute aus den Niederlassungen Hannover, Oldenburg, Bremen, Kiel, Kassel und Magdeburg äußerten sich daher negativ zum Ergebnis:
»Viele Kolleg:innen sind wütend und enttäuscht, dass innerhalb von einem Tag alle unsere ›roten Linien‹ aufgegeben worden sind und man sich in die Argumentation des Konzerns einreiht. Wir haben das Jahr 2023 als ›Nullrunde‹ kritisiert, jetzt wird es von der Tarifkommission verteidigt. Wir haben die ›Maximalforderung‹ des Unternehmens als Bluff demaskiert, jetzt ist es kein Bluff mehr. Wir haben 24 Monate Laufzeitlänge kritisiert, jetzt sind 24 Monate machbar. Wir haben Einmalzahlungen als ›Einkommenssteigerung‹ zurückgewiesen, jetzt wird damit nachdrücklich für die Annahme des Angebots geworben. Wir wollten mindestens einen Inflationsausgleich, jetzt werden Reallohnverluste in Kauf genommen. Wir waren uns einig, mit einem unbefristeten Streik ein besseres Angebot durchzusetzen, jetzt sei so ein Streik aussichtslos und ein ›mehr‹ werde es nicht geben.
Das Motto unserer Tarifbewegung ›15 Prozent – notwendig, gerecht, machbar‹ hat ohne nachvollziehbar kommunizierte Gründe über Nacht an Wert verloren … Als Vertrauensleute und überzeugte Ver.dianer:innen sprechen wir uns dafür aus, das neu vorgelegte Angebot entgegen der Empfehlung der Verhandlungs- und Tarifkommission abzulehnen unter der Bedingung, mit voller Ernsthaftigkeit und Bereitschaft für ein besseres Angebot zu kämpfen.«
Das Ergebnis wird bis zum 30.März erneut zur Urabstimmung vorgelegt, zur Annahme reichen jedoch 25 Prozent Zustimmung. Auch wenn die Kolleg:innen erneut abstimmen können, hat Ver.di mit dieser Vorgehensweise viele vor den Kopf gestoßen. Die Urabstimmung wurde als Druckmittel gegenüber den Arbeitgebern verwendet, statt sich der Abstimmung unter den Kolleg:innen anzuschließen.
Es bleibt zu hoffen, dass viele ihr Nein auf dem Stimmzettel zum Ausdruck bringen. Direkt als Vorboten kann man das Ergebnis für den öffentlichen Dienst trotzdem nicht nehmen. Während aus dem Arbeitgeberlager schon zu hören ist, die Situation sei nicht zu vergleichen, weil die Post als Aktiengesellschaft schließlich im Vergleich zum öffentlichen Dienst Gewinne mache, blicken andere auf das Kräfteverhältnis und wie gut aufgestellt der Fachbereich für Streiks wäre. Anders als beim öffentlichen Dienst gibt es bei der Post bislang keine Bündnisansätze. Der Vorstoß der LINKEN, jetzt die komplette Rückführung der Post in öffentlich Hand zu fordern, bietet sich hier an.
Mobilitäts-Lockdown Ende März
Während bei der Post also nun auf das Ergebnis gewartet wird, gehen in anderen Branchen die Streiks weiter. Die Stuttgarter Zeitung spricht von einem Mobilitätslockdown: »Am 27.März dürfte die Bevölkerung wie vielleicht nie zuvor die Macht der Gewerkschaften zu spüren bekommen. Auch wenn es noch nicht offiziell bestätigt wird, so planen sie offenbar, die Republik an jenem Montag quasi in einen Mobilitätslockdown zu zwingen. Dann soll in einer konzertierten Aktion der gesamte Verkehrsbereich mit Streiks getroffen werden: Flughäfen, die Deutsche Bahn, kleinere Bahngesellschaften sowie der Öffentliche Personennahverkehr. Neu ist, dass mehrere Gewerkschaften parallel Tarifkonflikte zuspitzen, die formal gar nichts miteinander zu tun haben.«
Hintergrund sind nicht nur die bundesweiten Tarifverhandlungen für die Luftsicherheit, sondern auch das offensivere Vorgehen der EVG. Sie fordert 12 Prozent und mindestens 650 Euro – und zwar gemeinsam bei fünfzig Bahnunternehmen. Nach dem Verhandlungstermin Ende März wird Bilanz gezogen.
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.