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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2023

Auf dem Weg zu einer neuen Intifada?
von Andrea Martini

In Ostjerusalem leben hunderttausende Palästinenser (etwa 40 Prozent der Bevölkerung der gesamten Stadt), es ist ein Stadtteil, der durch die mehr als 70jährige zionistische Präsenz und mehr als 50 Jahre israelische Besatzung verwüstet wurde.
Besonders dramatisch ist die Situation im überfüllten arabischen Viertel Silwan, von dem aus man die Kuppel der Al-Aqsa-Moschee bewundern kann. In diesem Viertel leben 60000 Palästinenser, umgeben von israelischen Siedlern, die ein Haus nach dem anderen legal aufkaufen und dabei von reichen religiösen und extremistischen Organisationen unterstützt werden, die Strohleute einsetzen.

In Silwan verwundete Ende Januar ein 13jähriger palästinensischer Junge, Muhammad Aliwat, der hier wohnt, zwei Israelis bei einem Überfall. Nur einen Tag vorher hatte in Neve Yaacov, einer israelischen Siedlung in Ostjerusalem, ein 21jähriger Palästinenser, Khairy Alqam, auf israelische Siedler geschossen und sieben von ihnen getötet.
Zuvor, am 26.Januar, hatte die israelische Armee bei einer Militäroperation im Flüchtlingslager Jenin (in dem seit 1953 23000 Palästinenser in Not leben) zehn Palästinenser getötet und mehrere Dutzend verwundet. Die Opfer wurden sofort als »Terroristen« bezeichnet (darunter auch eine ältere Frau über 60, die aus dem Fenster geschaut hatte, um zu sehen, was vor sich ging). »Sie schossen in alle Richtungen, die Soldaten schossen auf alles, was sich bewegte, es war ein wahres Gemetzel«, sagte ein Zeuge des Angriffs in Jenin gegenüber der Nachrichtenagentur France Press.
Bei einer ähnlichen und gleichzeitigen Operation in Ramallah wurde ein weiterer junger Palästinenser getötet.
Diese Opfer kommen zu den über 200 Todesopfern hinzu, die die israelische Armee im Jahr 2022 verursacht hat. Die Zahl der palästinensischen Todesopfer beläuft sich im Januar 2023 bereits auf über 30. Auf den Angriff auf Jenin folgten ein umfangreicher, aber im wesentlichen harmloser Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen und sehr viel tödlichere israelische Luftangriffe als Vergeltung.

Die Sorge der Heuchler
Die Gewalt hat Furcht vor einer neuen Spirale von Anschlägen geweckt, und die Rufe nach »Mäßigung« aus dem Ausland haben zugenommen. Alle, von UN-Sekretär Guterres über die Regierung Biden bis hin zu den EU-Behörden und sogar dem russischen Außenminister Sergej Lawrow, beeilten sich zu erklären, dass sie »tief besorgt über die Eskalation der Gewalt« seien. Diese vergeblichen Appelle westlicher Regierungen sind umso heuchlerischer, als sie von weitaus substanzielleren Zusagen der totalen Unterstützung für die neue Regierung von Binyamin Netanyahu begleitet werden.
Anders als in der Ukraine, wo zurecht zwischen Besatzern und Besetzten unterschieden wird, gilt dieses elementare Kriterium für Palästina offensichtlich nicht. Die Heuchelei der UNO, die fünfzig Jahre lang hilflos und mitschuldig zugesehen hat, wie Israel das Völkerrecht und die zahlreichen Resolutionen der UN-Generalversammlung und des UN-Sicherheitsrats völlig missachtet hat, ist frappierend. Israel ist ein Land, das ein anderes besetzt, und als solches sollte es verurteilt werden. Dies gilt umso mehr, als es wie jeder Besatzer erklärt, dass es jeden Anflug von Widerstand im Keim ersticken will. Die »UN-Charta« aber erklärt feierlich das Widerstandsrecht zum Recht aller Völker, das, wenn nötig, sogar den Einsatz von Waffen legitimiert.
Die neuen Gewalttaten (Jenin, Ramallah, Gaza und dann die Aktionen palästinensischer Jugendlicher in Ostjerusalem) ereigneten sich nicht zufällig kurz nachdem Netanyahus Bündnis mit der extremen Rechten an die Macht gekommen ist. Internationale Appelle sind bei der israelischen Führung ungehört verhallt, die im Gegenteil die Unterdrückung der Palästinenser weiter verschärft.
Das israelische »Sicherheitskabinett« hat die Sozialversicherungsansprüche der »Familien von Terroristen« aufgehoben, auch die Personalausweise sollen ihnen entzogen werden. In einem Gebiet, in dem es an jeder Ecke Kontrollpunkte für Palästinenser gibt, macht diesen das Leben buchstäblich unmöglich. Für Israelis soll es einfacher werden, einen Waffenschein zu erhalten. Und diejenigen, die bereits einen haben, wurden aufgefordert, ihre Waffen immer bei sich zu tragen – eine echte Einladung, auf Palästinenser zu schießen, vor allem wenn sie jung sind und außerhalb ihres Viertels gesehen werden.
Die Familien der beiden palästinensischen Bombenleger, auch die des kleinen Jungen, der niemanden getötet hat, wurden aus ihren Häusern vertrieben, sie wurden abgeriegelt und sollten sofort abgerissen werden. Bisher sah die Gesetzgebung der Besatzer nur den Abriss der Häuser jener vor, die den Tod von Israelis verursacht haben, und das auch nur nach einem zweistufigen Verfahren. Diese jetzige Art der kollektiven Bestrafung (Tötung von Familienmitgliedern) stellt einen echten Racheakt dar und verstößt gegen alle internationalen Konventionen.

Die wahren Ursachen der Gewalt
Wie kann die israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete – einschließlich Ostjerusalems, das seit jeher die palästinensische Hauptstadt ist – beendet werden? Man kann über die »schreckliche Spirale« jammern, ohne ihre Ursachen zu analysieren und ohne den Willen, sie zu bekämpfen. Denn es ist gerade die israelische Besatzung, die diese Gewalt in sich trägt.
Seit dem vergangenen Frühjahr unterdrückt Israel einen beginnenden Aufstand. Die Armee startete eine groß angelegte Operation, um eine neue Form des bewaffneten Widerstands zu »eliminieren«: eine jüngere Form, die sich außerhalb der traditionellen Parteien verortet und sich vor allem im Norden des Westjordanlands, in der Altstadt von Nablus, dem Flüchtlingslager Jenin und den umliegenden Dörfern konzentriert. Jedesmal, wenn Soldaten auftauchen, werden sie von bewaffneten palästinensischen Jugendlichen mit Schüssen begrüßt.
Die politische Perspektivlosigkeit, die in diesen Teilen des palästinensischen Gebiets herrscht, ist dabei nicht hilfreich: Nach UN-Angaben war 2022 das tödlichste Jahr für Palästinenser im Westjordanland seit dem Ende der zweiten Intifada (2000–2005), und 2023 scheint es weiterzugehen. Rund dreißig Todesfälle gibt es jeden Monat, laut UNO ist keine Trendwende in Sicht.
Neue Generationen von Palästinensern streben nach Freiheit von einer Besatzung, die schon immer besonders grausam war und die mit der neuen, noch rechteren Regierung von Netanyahu noch rücksichtsloser wird. Alle vermeintlichen politischen Lösungen, die seit dem Osloer Abkommen von 1995 vorgeschlagen wurden, sind krachend gescheitert, und zwar immer aufgrund der Verantwortung Israels, das sein wahres Ziel, nämlich die Vertreibung aller Palästinenser aus »Großisrael«, immer weniger verheimlicht.

Eine neue Generation
Die alten Organisationen, von der historischen Al Fatah über die PLO und die Hamas bis hin zu den palästinensischen Linksparteien überzeugen nicht mehr, vor allem nicht die jungen Menschen. Die Palästinensische Autonomiebehörde von Abu Mazen, korrupt, geschwächt und völlig diskreditiert, hat seit Jahren die Kontrolle verloren und scheint mit der Situation überfordert.
Es entstehen neue bewaffnete Gruppen, die sich außerhalb der bestehenden Organisationen bewegen. Diese Gruppierungen sind einer doppelten israelischen und palästinensischen Repression ausgesetzt, scheinen aber immer mehr Unterstützung in der Bevölkerung zu finden.
Mustafa Sheta, der Direktor des Freedom Theatre in Jenin, sagte: »Das sind neue Gruppen. Sie sind nicht mit palästinensischen Parteien verbunden, es sind unabhängige Gruppen. Sie sind das Produkt ihrer miserablen Lage, sie sind hoffnungslos. Diese Menschen glauben nicht mehr an politische Reden oder an die Versprechen der palästinensischen Führer. Viele von ihnen sind in den letzten zwei Jahren verhaftet worden. Es hat viele Verletzte und Ermordete gegeben, junge Menschen! Die neue Generation, die mit der Wut auf Israel und die Besatzung aufgewachsen ist, versucht, sich aus dieser Situation zu befreien, indem sie sich neuen militärischen Gruppen anschließt. Sie sind bereit, gegen Israel und die Besatzung zu kämpfen.«
Palästinenser in Ostjerusalem (aber auch im Westjordanland und im Gazastreifen) haben den »Erfolg« des Anschlags auf Neve Yaacov und den Tod der sieben israelischen Siedler mit einem Konzert aus Hupen, Böllern und Feuerwerkskörpern gefeiert. Der Korrespondent von Agence France Press, der einige Palästinenser interviewte, zitierte die Aussage einer Frau: »Es deprimiert mich, dass unsere Gesellschaft so verwundet und kaputt ist, dass wir den Tod auf diese Weise feiern können. Aber was erwartet man von einem Teenager, der sein ganzes Leben unter der Besatzung verbracht hat? Dass er Blumen mitbringt?«
Jeder der Attentäter hatte eine Geschichte. Der in Neve Yaacov hatte erlebt, wie sein Großvater von einem Israeli abgeschlachtet wurde, der 13jährige in Silwan wuchs in einem Viertel unter einem feindlichen Kolonialregime auf. Entweder es bildet sich eine neue und tragfähige politische Hypothese heraus (was bislang völlig undenkbar ist) oder diese Welle wird zu in einer Explosion reiner Gewalt führen.

Quelle: www.rosarossaonline.it/2023/01/31/la-palestina-verso-una-nuova-intifada/

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