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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2023

Der Vorsitzende von Sozialnyj Ruch, stellt seine Organisation vor
Gespräch mit Witalyj Dudin

Sozialnyj Ruch ist eine linke Basisorganisation in der Ukraine, die 2015 als Zusammenschluss von demokratischen, libertären und revolutionären sozialistischen Strömungen entstanden ist. Ihre Bandbreite reicht von Sozialdemokraten bis Anarchisten.

Wie hat sich der Krieg auf eure Aktivitäten ausgewirkt, wie könnt ihr derzeit Einfluss auf soziale und politische Prozesse nehmen?

Sozialnyj Ruch besteht seit 2015. Wir sind keine Organisation von »Berufspolitikern«, die an Wahlen und Machtausübung beteiligt sind, wir sind eine basisdemokratische, militante Organisation. Wir haben Erfahrungen in der Organisation von Mahnwachen und Demonstrationen, der Durchführung von Diskussionen und der Bereitstellung von Rechtsbeistand, aber wir haben keine Erfahrung darin, Regierungspolitik zu beeinflussen.
Als der Krieg ausbrach, standen wir vor der konkreten Frage: Entweder wir lösen uns auf oder wir ändern den Ansatz unserer Arbeit und versuchen, unsere Autonomie zu bewahren und auszubauen. Schon in den ersten Tagen stellten wir fest, dass sich neben den unmenschlichen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, auch Nischen auftun, in denen wir eine ganz einzigartige Rolle spielen können, insbesondere durch die Verbindungen zur internationalen Linken und der Gewerkschaftsbewegung. Zu Beginn des Krieges war Sozialnyj Ruch buchstäblich die einzige Organisation, die über ein entwickeltes Netzwerk von Kontakten in die ganze Welt verfügte.
Wir haben auch gute Verbindungen zu Gewerkschaften und Arbeiterkollektiven. Es gibt zum Beispiel eine starke Bewegung von Krankenschwestern, sie nennt sich »Sei wie Nina« – benannt nach der Krankenschwester Nina Koslowska, einer der Inspiratorinnen der Bewegung. Diese verfügt über Kontakte in der gesamten Ukraine. Wir helfen ihnen dabei, rechtlichen Beistand zu erhalten und Kontakte zu internationalen Organisationen herzustellen, die materielle oder humanitäre Unterstützung leisten können. So erhält »Sei wie Nina« eine zuverlässige Finanzierung für die Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ostukraine; die Bezahlung der Behandlung von Menschen, die im Krieg ihre Gesundheit verloren haben; oder den Eintritt für Arbeitsrechte – etwa bei der Kürzung oder Nichtauszahlung von Löhnen, was in der Ukraine sehr häufig vorkommt, nicht nur in den Kriegsgebieten.
Und natürlich versuchen wir, den Kämpfern zu helfen, die direkt am Widerstand gegen die russische Aggression beteiligt sind. Wir helfen vor allem Eisenbahnern, Bergleuten, Fahrern und Bauarbeitern, die Gewerkschaftsmitglieder waren und nun an vorderster Front stehen. Vertreter dieser Sektoren und medizinisches Personal zeigten vor dem Krieg die größte Neigung zu sozialen Protesten; gleichzeitig sind sie massiv in den bewaffneten Widerstand involviert. Wenn wir diese Menschen verlieren, wird die Ukraine noch schlechtere Aussichten haben.

Wie bewertest du die jüngsten Maßnahmen von Selenskyj zur Verstaatlichung von Unternehmen und zur Entlassung hochrangiger Beamter im Zusammenhang mit der Aufdeckung von Korruptionsfällen – auch solchen, die mit der Verteilung westlicher humanitärer Hilfe in Verbindung stehen?

Die Maßnahmen der Behörden sind eher symbolisch. Das wird daran deutlich, dass einige Vizeminister, nicht aber der Minister entlassen wurden. Die Ursachen der Korruption auf höchster Ebene liegen in der Vetternwirtschaft und der Allmacht der Oligarchen.
Ich kenne viele Menschen mit niedrigen Gehältern, die für die Armee spenden, weil ihnen klar ist, dass es für sie kein Leben in einem Land geben kann, das besiegt und von russischen Killern besetzt ist. Doch inzwischen schauen sie sehr kritisch, wohin ihre Spenden fließen. Wenn man Geld einfach nur auf die Konten des Verteidigungsministeriums überweist, weiß man nicht, wo es landet. Deshalb werden alternative Verbindungen, Solidaritätsnetzwerke aufgebaut, bei denen Menschen bestimmte Personen unterstützen, die sie kennen.
Hier geht es um gemeinsame Interessen. Jeder Bürger und jede Bürgerin der Ukraine fühlt sich in einen großen historischen Prozess eingebunden. Diese Erfahrung wird die Menschen für immer verändern. Bewusste Freiwilligenarbeit trägt zur staatsbürgerlichen Entwicklung unseres Landes bei.

Wie kann die internationale Linke das ukrainische Volk in seinem Kampf gegen alle Formen des Neokolonialismus, ob russischer oder westlicher, unterstützen?

Damit das Wort Souveränität in bezug auf die Ukraine eine Bedeutung hat, müssen die arbeitenden Menschen, die alle Werte mit ihren eigenen Händen herstellen und die notwendigsten Dienstleistungen erbringen, an der Macht vertreten sein. Ukrainische Gesetze sollten nicht ohne die Zustimmung der Gewerkschaften verabschiedet werden. Die Hindernisse für die politische Beteiligung der Massen – etwa die Gebühren für die Registrierung von Parteien und die Wahlgebühren – müssen abgeschafft werden. Jeder muss Zugang zu Bildung, Wissenschaft und Informationen haben. Unternehmen, die staatliche Unterstützung erhalten, sollten von den Belegschaften geführt werden, damit die Kapitaleigner sich nicht daran bereichern können.
Die Lasten des Krieges müssen gerecht verteilt werden. Die Grundbedürfnisse unseres Volkes können nicht erfüllt werden, ohne die Auslandsschulden zu tilgen.
Wir werden Arbeitsplätze haben, wir werden umweltfreundliche Technologien haben, wir werden einen angemessenen Lebensstandard haben, wenn wir die Interessen der Arbeitnehmer an die erste Stelle setzen und die Oligarchen von der Macht verdrängen. Für unsere Nation ist das eine Frage des Überlebens.

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