Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 04/2023

Vieles, doch nichts
von Kurt Hofmann

Test-, wenn auch nicht einschränkungsfrei sollte der Ablauf der 73.Berlinale sein. Sie verhieß damit Normalität im Ablauf und lockte in allen Sektionen mit einem ebenso umfangreichen wie vielfältigen Programm.

Sur l’Adamant
Nicolas Philibert

Ein Schiff auf der Seine, am Eingang ein Schild: »Nicht für jedermann. Eintritt nur für Verrückte!« Ver-rückt hat sich die Sicht auf die Realität für diejenigen, welche die psychiatrische Tagesklinik L’Adamant in Paris frequentieren. Integration statt Stigmatisierung könnte ein mögliches Motto des L’Adamant sein, denn es werden (künstlerische) Begabungen gefördert, eine »Bar« ermöglicht Unterhaltungen, in denen das Gegenüber ernst genommen wird, und an den wöchentlichen Sitzungen nehmen auch Patient:innen teil, dürfen ihre Meinungen äußern, sich »einbringen«.
Es ist ein freundliches, humanistisches Konzept, doch von offener Psychiatrie à la Franco Basaglia oder gar Antipsychiatrie ist nicht die Rede. Hinter der Freundlichkeit werden immer wieder Grenzen sichtbar, etwa wenn eine ehemalige Tänzerin fragt, warum sie keinen Workshop für interessierte Patient:innen leiten darf und mit ihrem Wunsch bei den Klinikverantwortlichen nur auf Unverständnis stößt. Argumentiert wird diese Untersagung nicht, doch es wird klar, dass selbst ein Hauch von echter Selbstverwaltung unerwünscht ist, weil er Folgen zeitigen könnte…
In Nicolas Philiberts Sur l’Adamant, dem Siegerfilm der diesjährigen Berlinale, werden (von den Patient:innen) Geschichten erzählt, über ihr Leben, wie es war und wie es hätte sein können. Über ihre Möglichkeiten und wie sie darin von anderen ständig unterschätzt werden. Dass sich die Eigensicht bisweilen von der Realität unterscheidet, darf vermutet werden, aber jener behaupteten Realität steht wiederum das gesellschaftliche Konstrukt einer Realität (als Behauptung) gegenüber. Dies wissend, hört Nicolas Philibert den Patient:innen zu, kommentiert weder ihre Geschichten noch die Möglichkeiten der Einrichtung, die sie frequentieren. »Heilung«, soviel wird klar, ist für die meisten nicht in Sicht, doch wie sollte die auch aussehen?

Kletka ischet ptizu (Der Käfig sucht einen Vogel)
Frankreich/Russland
Regie: Malika Mussajewa

Jascha und Madina sind »unzertrennliche« Freundinnen. Nach Schulschluss albern sie auf dem Heimweg herum, schmieden Pläne für »später«, für ein Studium in der Stadt, vergessen dabei jedoch nicht, dass sie die Schminke aus ihrem Gesicht entfernen müssen, bevor sie zu Hause ankommen.
Der Ort ist ein Dorf in Tschetschenien, und was siebzehnjährige Mädchen zu tun und zu lassen haben, ist genau festgelegt. Jascha lebt bei ihrer alleinerziehenden Mutter auf einem Bauernhof, muss auch die Tiere im Stall versorgen, sich wenn nötig um den kleinen Bruder kümmern. Freizeit ist für sie nur begrenzt vorgesehen, für Grenzerweiterungen ist geschickte »Taktik« vonnöten.
Jascha hört mit, als ihre ältere Schwester die Mutter besucht und diese anfleht, ihr bei der Trennung von ihrem gewalttätigen Mann zu helfen, doch die wiegelt nur ab, verweist auf deren gemeinsames Kind und darauf, dass sich »das alles« schon einrenken werde.
Auch Jascha hat keine Hilfe zu erwarten, als eine »Tante«, eine Heiratsvermittlerin, eintrifft und mit der Mutter einig ist, dass siebzehnjährige Mädchen, ehe sie auf »blöde Gedanken« kommen, mit »dem Richtigen« zusammengebracht werden sollten. Jascha versucht zu fliehen, wird von der besten Freundin an die Familie verraten und zurückgebracht. Dort wartet schon eine Versammlung der Matronen des Ortes, die überlegen, was mit dem aufmüpfigen Mädchen geschehen soll…
Kletka ischet ptizu zeigt ein mehrheitlich von Frauen (wohl eine Folge des Krieges) bewohntes Dorf – doch für die nächste Generation, die Mädchen, ist dadurch nichts besser geworden – alles soll so bleiben wie ehedem, der Käfig wartet auf den Vogel. Allerdings, auch das wird in Mussajewas Film sichtbar: Mädchen wie Jascha, die nicht mehr an die »ehernen Gesetze« glauben, werden immer wieder versuchen, ihrem »Käfig« zu entfliehen, eine nach der anderen…

I heard it through the grapevine
USA 1982
Regie: Dick Fontaine

1982: Der Schriftsteller James Baldwin will erneut Bilanz ziehen, was sich für die People of Color in den USA geändert hat, wie dominant der Rassismus, insbesondere im heimatlichen Süden, noch ist. Er besucht zentrale Orte des Protests in den 1960er Jahren, befragt dessen Protagonis­t:innen, doch die Schlussfolgerung ist ernüchternd: Vieles habe sich (per Gesetz) geändert, aber in Wahrheit nichts. Man sieht einen Sheriff, der die Eintragung ins Wahlregister verhindert, Verhaftungen aus geringstem Anlass, Misshandlungen…
Doch die Entscheidung, dem zu widerstehen, ist auch in den nachfolgenden Generationen präsent – auf diese richten sich, so Baldwin beim Besuch einer Schule, alle Hoffnungen.
I heard it through the grapevine, im Forum Special zu sehen, ist kein »historischer« Film, in Zeiten, da südliche Bundesstaaten die Gesetze ändern, um PoC an der Wahlteilnahme zu hindern und nahezu wöchentlich Übergriffe, ja Morde durch die Polizei und rassistische Fanatiker vermeldet werden. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen, das wird, Dick Fontaines Film aus dem Jahr 1982 sehend, sehr deutlich.

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