Der Widerstand wächst
von Violetta Bock
Nach zehn Jahren Streik bei Amazon gehören Gewerkschaften im Unternehmen zum Alltag. Amazon ghostet sie weiterhin. Der Arbeitskampf bleibt von zentraler Bedeutung, weil das Unternehmen das Paradebeispiel für vieles ist, was derzeit nicht richtig läuft.
Zuallererst sind das die Arbeitsbedingungen: Heuern und Feuern und Druck an der Basis. Und auf der anderen Seite der Gründer Jeff Bezos, einer der reichsten Menschen, dem die Erde nicht genug ist, der ins Weltall will. Im Juli 2021 übergab er an Andy Jessy den Vorstandsvorsitz, der fiel vor allem durch »Kostensenkungen« auf.
In der Pandemie war Amazon der Krisengewinner. Der Onlinemarkt boomte. Amazon setze auf Expansion, eröffnete neue Standorte. Die Städte bekamen ein Problem mit den Paketmengen. Barcelona etwa stellte fest, dass jährlich 8300 Stellplätze zum Be- und Entladen genutzt werden. Große Onlinehändler und Postdienstleister müssen nun eine Abgabe von 1,25 Prozent des Bruttoerlöses an die Stadt zahlen; in Deutschland – nichts.
Durch die Eröffnung von 50 neuen Standorten 2021 in Europa sparte Amazon Steuern, weil es dies als Verlust deklarierte. In 2021 zahlte Amazon laut »Make Amazon Pay« keine Einkommensteuer in Europa. Stattdessen gab es ein Geschenk: eine Steuererstattung in Höhe von 1 Milliarde Euro für 55 Milliarden Euro Umsatz. Europaweit steht Amazon bei den Steuervermeidern ganz oben in der Liste.
Amazon auf Sparkurs
In den letzten Monaten hat Amazon wie andere Technologieunternehmen auch Kündigungen im großen Maßstab angekündigt: 18000 im Januar und weitere 9000 im März dieses Jahres – von 1,5 Millionen Stellen weltweit.
Besonders betroffen sind davon der Unternehmens- und Technologiebereich: die Cloudsparte AWS, die Werbeabteilung, der Livestreamingdienst Twitch. In einem Brief an die Aktionäre schrieb CEO Andy Jessy im April über das Jahr 2022: »In den letzten Monaten haben wir uns das gesamte Unternehmen, jeden Geschäftsbereich und jede Erfindung genau angesehen und uns gefragt, ob wir von dem langfristigen Potenzial jeder Initiative überzeugt sind, genügend Umsatz, Betriebsergebnis, freien Cashflow und Rendite auf das investierte Kapital zu erzielen. In einigen Fällen führte dies dazu, dass wir bestimmte Geschäfte schließen mussten.«
Amazon setze im Unterschied zu anderen Unternehmen weiter auf eine langfristige Strategie. Während also in den USA Geschäfte und Initiativen wie der virtuelle Gesundheitsdienst Amazon Care geschlossen wurden, will Amazon mit der KI-Plattform Bedrock jetzt ganz groß bei Algorithmen für maschinelles Lernen einsteigen. Unter dem Stichwort »Demokratisierung« will Amazon ChatGPT Konkurrenz machen, verschiedene Funktionen an einem Ort vereinen und Individualisierungsmöglichkeiten bieten. Bislang steht dies nur ausgewählten Industriekunden zur Verfügung.
Die Gewerkschaftsaktiven der Tech Worker Coalition bringen Kolleg:innen aus verschiedenen Konzernen, u.a. von Amazon Mechanical Turk, zusammen und warnen: »Bei all dem Hype um ChatGPT, das Schriftsteller, Datenkommentatoren und Künstler ersetzen soll, dürfen wir nicht vergessen, dass es beim Schreiben und Wissen nicht nur darum geht, Wörter zu bilden oder Kategorien zuzuordnen, sondern auch um die Beurteilung.«
Arbeitskämpfe
Die gewerkschaftliche Organisierung entwickelt sich weiter. Rund um die Osterzeit streikten in Deutschland Kolleg:innen an den Standorten Werne, Graben, Winsen (Luhe), Leipzig, Rheinberg, Bad Hersfeld und Koblenz. Erstmals streiken in diesem Jahr Beschäftigte in Coventry in England. Dort hatten im April 600 Kolleg:innen der Gewerkschaft GMB Union die Arbeit niedergelegt. Sie fordern eine Lohnerhöhung auf 15 Pfund statt 10,50, Amazon hatte nur 50 Pence angeboten. Fünf weitere Standorte in Großbritannien stimmen über einen Streik ab.
In Frankreich wurden im März 44 Beschäftigte angeklagt, weil sie in Gidy die Zufahrt während des Streiks blockierten. Laut Amazon konnten 220000 Pakete nicht ausgeliefert werden. Das Gericht urteilte, diese Ausübung des Streikrechts sei illegal, sah aber von einer Strafe ab. Die Gewerkschaft SUD Solidaires hatte an mehreren Standorten zu Solidaritätskundgebungen aufgerufen und kritisierte den Angriff auf das Streikrecht durch Amazon.
In der Bretagne blockierten Lieferfahrer Anfang April ein Amazon-Lager, weil sie von NGS Express keinen Lohn erhalten hatten. Die Beschäftigten dort klagen, dass der Druck und die Überwachung steigen und Kolleg:innen sich mit Robotern messen lassen müssen. Mitarbeiter:innen erhalten Briefe, in denen ihre »untätigen« Minuten dargestellt und als unrechtmäßige »Pausenzeiten« kritisiert werden. Dies ist auch von anderen Standorten bekannt.
Die »untätigen« Minuten werden als Vorwand für Kündigungen herangezogen. So etwa bei Kamila, die im März 2023 von Amazon in Sosnowiec in Polen entlassen wurde, weil sie »die erwarteten Produktivitätsergebnisse nicht erzielte«. In einem Interview mit der Gewerkschaft IP, die sie unterstützt, beschreibt sie, wie die Zahl der Pakete von 180 vor ein paar Jahren auf 340 pro Schicht stiegen und dass das System nicht die tatsächliche Arbeit erfasst.
In Polen werden Streiks von der Basisgewerkschaft IP vorbereitet. Notwendig ist zuerst ein Referendum, an dem sich mehr als die Hälfte der Beschäftigten beteiligen müssen. Amazon verwehrt der Gewerkschaft jedoch den Zutritt. Wie andernorts wird Druck ausgeübt, Aufhebungsverträge zu unterschreiben.
Dass Amazon nichts von Gewerkschaften hält, ist nichts Neues. Im März schaffte es das Thema in die tagesschau. Aktuell kämpfen drei Betriebsräte aus drei Standorten in Niedersachsen gegen ihre Entlassung. Alle sind aktive Gewerkschafter.
Im brandenburgischen Brieselang wird ein Standort Ende des Jahres geschlossen, 600 Kolleg:innen sollen gehen. Angeblich sind die Gebäude veraltet und für eine Umrüstung auf Robotereinsatz nicht geeignet. Neue Standorte sollen eröffnet werden. In NRW klagt der BUND gegen die dafür geplante Versiegelung von 23 Hektar zuvor überwiegend landwirtschaftlich genutzter Flächen.
Galt Amazon vor Jahren noch als unorganisierbar, ist inzwischen längst klar, dass Gewerkschaften Fuß fassen können und die internationale Vernetzung Früchte trägt. An dieser Stelle deshalb einfach: Herzlichen Glückwunsch an die Kolleg:innen, die den Stein ins Rollen gebracht haben und Inspiration für Arbeiter:innen weltweit sind!
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