Betr: Daniel Kreutz, Strenger Geruch von Nationalismus und Militarismus, SoZ 05/23, Seite
Die Veröffentlichung des Interviews mit Witaly Dudin hat unter SoZ-Leser:innen eine Debatte ausgelöst. Auf eine Kritik von Daniel Kreutz in der Mai-Ausgabe folgt nun eine Replik von Renate Hürtgen. Die Redaktion wünscht sich, dass die Debatte dazu beitragen möge, jenseits wechselseitiger Empörungen das Verständnis für die jeweilige Position des Anderen zu vertiefen.
In der letzten SoZ befindet sich ein Beitrag von Daniel Kreutz, in dem er sich gegen die kommentarlose Veröffentlichung eines Interviews mit Witaly Dudin, dem Vorsitzenden der ukrainischen linkssozialistischen Bewegung Sozialnyi Ruch wendet. Er hält Dudin für einen in der Nähe des Nationalismus und Militarismus einzuordnenden Aktivisten, der sich ein sozialistisches Mäntelchen umgelegt habe und dem die SoZ keinen Platz hätte einräumen dürfen.
Ich plädiere im Interesse des Ansehens unserer linken politischen Debattenkultur umgekehrt dafür, die Wortmeldung von Daniel Kreutz nicht kommentarlos zu belassen, sondern ihm energisch zu widersprechen und uns von Diffamierungen ukrainischer linker Akteure zu distanzieren. Wenn wir das nicht tun, katapultieren wir uns aus der internationalen Debatte. Worum geht es?
Daniel Kreutz ist empört darüber, dass Dudin sich für einen Sieg der Ukraine über die russische Armee ausspricht. Er wirft ihm vor, damit dem „massenhafte(n) Abschlachten von (...) Klassengeschwistern der ukrainischen Werktätigen“ das Wort zu reden und vergessen zu haben, dass Lohnarbeiter kein Vaterland haben und nur eine Perspektive in der globalen solidarischen Vereinigung sehen können. Nach dieser naseweisen Belehrung setzt er noch eins drauf und erinnert (Dudin) daran, dass dies alles schon im Kommunistischen Manifest von 1848 nachzulesen sei.
Witaly Dudin beschreibt in dem besagten Interview in der SoZ, 4/2023 die politische Arbeit der Bewegung Sozialnyi Ruch, für die aktuell die Auseinandersetzung mit der Verschlechterung des Arbeitsrechts im Zentrum steht und die eng mit unabhängigen Gewerkschaften zusammenarbeitet. Dudin ist Arbeitsrechtler, der, wie er selbst sagt, von den „Klasseninteressen der arbeitenden Bevölkerung“ ausgeht, was seiner Analyse der Lage der Arbeiter:innenrechte besonders wertvoll macht. Was!?, höhnt Kreutz, Dudin und seine Bewegung interessierten doch keine Klassen, „Volk und Vaterland“ stünden im Mittelpunkt ihres und seines Denkens und Handelns.
Ist dies alles schon zum „Fremdschämen“ genug, folgt gleich noch eine weitere Passage, die das Fass für mich zum Überlaufen brachte. Witaly Dudin gehört zu einer linken Fraktion, die sich für eine „sozialistische Reorganisation“ der Ukraine einsetzt. Er hält eine solche gesellschaftliche Verfasstheit sogar für mobilisierend im Widerstand gegen den russischen Aggressor und entscheidend für die Entwicklung der Ukraine in der Nachkriegszeit. Darauf kann Daniel Kreutz nur voller Häme angesichts der Tatsache reagieren, dass „hier kein Anführer einer mächtigen Klassenbewegung“, sondern einer „marginalen Gruppierung“ spricht. Kreutz nennt Dudins politische Ansichten verächtlich „sozialistische Propaganda“, die dieser „als Hilfsmittel zur Kriegsführung feilbietet“.
Da schwingt einer die große politische Keule, obwohl er selber bekennen muß, nur „bescheidene Kenntnisse“ über die aktuelle Kriegssituation in der Ukraine zu besitzen. Tatsächlich scheint er sich noch nie mit der komplizierten Lage der Linken in der Ukraine befasst zu haben und weiß gar nichts über die Arbeit von Dudin/Sozialnyi Ruch. Die Analyse der ukrainischen Realität und die aufmerksame Betrachtung des linken Diskurses in der Ukraine waren es also nicht, die Kreutz zu seinem vernichtenden Urteil geführt haben, sondern sein (vielleicht im Studium oder in Lesezirkeln?) erworbenes theoretisches Verständnis von Krieg und Sozialismus, von Nationalismus und Klassenkampf. Sein Lehrbuchwissen gibt ihm die Gewissheit, dass die ukrainische Linke keinen ordentlichen Klassenstandpunkt hat und den Sozialismus nur als „Kriegspropaganda“ vor sich her trägt. Nach seinem theoretischen Verständnis von „Sozialismus“ ist das, was Dudin unter einer "sozialistischen Reorganisation" versteht, nur eine populistische Phrase. Den emanzipatorischen Gehalt einer politischen Idee, bei der es um den Aufbau eines funktionierenden Sozialsystems in der Ukraine, der Zurückdrängung der Macht der Oligarchen oder der Verstaatlichung der Eisenbahn geht, kann Daniel Kreutz folgerichtig nicht erkennen.
Wäre er der einzige, der mit abstrakten Überzeugungen an die Beurteilung der „Sozialen Bewegung“ in der Ukraine geht, ohne sich die Mühe zu machen, sie an der Realität zu überprüfen, wir könnten diesen Beitrag tatsächlich ignorieren. Leider aber wiederholt sich in Abständen diese immer wiederkehrende Arroganz eines Teils von Linken, die ihre angelernte, angeblich marxistische Theorie auf eine reale Bewegung wie eine Schablone legt. Danach wird nicht mehr differenziert, Krieg ist gleich Krieg, Nation ist immer schlecht und führt logisch zum Nationalismus und Faschismus. Mit den linken Kolleg:innen und Genoss:innen wird nicht in einen kritischen Diskurs eingetreten, sie werden – so als wüssten sie es nicht selbst – belehrt, in welcher Situation sie sich befänden und was sie Richtiges zu tun haben. Vielleicht ist es meine eigene Erfahrung mit dieser Besserwisserei, die mich besonders sensibilisiert und die mich appellieren lässt, einem derartig unsolidarischen Verhalten etwas entgegenzusetzen.
@A:Renate Hürtgen
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