Betr.: Witalyj Dudin, »Die Klassenfrage steht für uns im Mittelpunkt«, SoZ 4/2023
von Daniel Kreutz
Nach Lektüre des Interviews mit dem Vorsitzenden der »linkssozialistischen« ukrainischen Organisation Sozialnyj Ruch, Witalyj Dudin, in der April-Ausgabe der SoZ fragte ich mich, aus welchen Motiven die Redaktion diesem Text eine ganze Seite einräumte. Zumal ohne erläuternde und einordnende Kommentierung.
Nicht nur strotzen die Äußerungen Dudins vor Widersprüchen, die im einzelnen darzulegen hier den Rahmen sprengen würde. Vor allem irritiert, dass – und in welcher Weise – er sein als Überschrift gewähltes Zitat »Die Klassenfrage steht für uns im Mittelpunkt« dementiert. Zunächst erklärt er, Sozialnyj Ruch bewerte die Entscheidungen des Selenskyj-Regimes »danach, ob sie die Ukraine dem Sieg näher bringen«. Klassenfrage im Mittelpunkt? Sodann antwortet Dudin auf die Frage nach einem Ende des Krieges: »Wir glauben, dass die Ukraine den endgültigen Sieg [!] nur durch die unumkehrbare [!] Vernichtung [!] der russischen Armee … [erreichen] kann.« Ohne »endgültigen Sieg« ist ein Ende des Kriegs nicht vorstellbar? Was bedeutet »unumkehrbare Vernichtung« anderes als ein möglichst massenhaftes Abschlachten von Menschen, Klassengeschwistern der ukrainischen Werktätigen, die das verbrecherische Putin-Regime in Uniformen steckt und an die Front treibt?
Putin werde den Krieg »so lange wie möglich fortsetzen«, so Dudin weiter, aber es gebe drei Faktoren, die zu einer Niederlage Russlands führen könnten. »Erstens die sozialistische Reorganisation der Ukraine.« Der zweite Faktor ist ein außenpolitisches Moment des ersten: Mit der Forderung nach Erlass der Auslandsschulden müsse die Ukraine ihre Haltung gegen Neoliberalismus und Imperialismus betonen, um mehr Unterstützung aus dem globalen Süden einzuwerben.
Nun spricht hier kein Anführer einer mächtigen Klassenbewegung, die sich tatsächlich Chancen auf eine baldige sozialistische Umwälzung ausrechnen würde, sondern der Sprecher einer eher marginalen Gruppierung, der sozialistische Propaganda als Hilfsmittel zur Kriegführung feilbietet. Drittens schließlich gehe es darum, die russische Wirtschaft durch Sanktionen zu »besiegen«. Was aber würde das Besiegen (oder, wie Annalena Baerbock formulierte: »Ruinieren«) der russischen Wirtschaft mittels weiter eskalierendem Wirtschaftskrieg des kollektiven Westens mit der einfachen russischen Bevölkerung machen?
»Im Mittelpunkt« steht bei Dudin/Sozialnyj Ruch unmissverständlich der Krieg für Volk und Vaterland. Notabene: Dass Lohnarbeitende kein Vaterland haben und ihre Perspektive in globaler solidarischer Vereinigung liegt, wurde nicht erst exklusiv für solche in imperialistischen Staaten formuliert, sondern bereits 1848 im Kommunistischen Manifest.
Wohl wegen des nationalistisch verengten Blickwinkels verliert Dudin kein Wort über den Stellvertreterkrieg des kollektiven NATO-Westens »bis zum letzten Ukrainer«, der den Angriffs- und Verteidigungskrieg sehr rasch überwölbte. Daher auch kein Wort dazu, was aus Souveränität und Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes wird, seit der Staat vollständig am Tropf des Westens hängt und die strategischen Entscheidungen nicht in Kiew, sondern in Washington fallen. Selbst wenn Sozialnyj Ruch solche Umstände im »vorrangigen« Interesse des Verteidigungskriegs hinnimmt, müssen sie sich doch der Frage stellen, aus welchen Motiven und mit welchen Zielen der Westen die gewaltigen Kriegsanstrengungen auf sich nimmt, ungeachtet auch der Folgen des Wirtschaftskriegs für seine Bevölkerung in der EU und weit darüber hinaus. Immerhin wusste auch der SPD-Außenpolitiker Egon Bahr: »In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.«
Als »revolutionärer Humanismus« (Leo Kofler) lehnt mein Marxismus den Krieg, den der Kapitalismus in sich trägt wie die Wolke den Regen, sehr grundsätzlich ab. Der Krieg zählt zum Schlimmsten überhaupt, das Staaten ihren Bevölkerungen antun können. Er ist die Aufhebung allen Menschenrechts zugunsten staatlich organisierter Massenschlächterei und Verheerung. Er kennt selber keine Grenze der Eskalation. Er produziert die Brutalisierung, die in Kriegsverbrechen mündet. Auf allen Seiten, gleich, ob Angreifer oder Angegriffener. Der wahre Kriegsheld ist mir der Deserteur. Ja, die Geschichte kennt Ausnahmesituationen, in denen der Kampf gegen den Krieg keine hinreichende Antwort ist. Doch nach meiner bescheidenen Kenntnis ließe sich keine für den Krieg in der Ukraine heranziehen.
Wenn »meine« SoZ eine Seite Ansichten widmet, die für nicht wenige sozialistische Nasen zumindest im Westen den strengen Geruch von Nationalismus und Militarismus verströmen, würde ich von der Redaktion schon erwarten, dass sie ihrer Leserschaft in kritischer Auseinandersetzung damit darlegt, warum dies trotz alledem seine Berechtigung haben soll. Denn dass sie derartige Ansichten teilt, möchte ich mir nicht vorstellen.
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Vom Wert des Widerspruchs
Eine Erwiderung
von Angela Klein
Vorab: Daniel Kreutz hat recht, wenn er anmahnt, dass der Abdruck des Interviews mit Witalyj Dudin in der April-Ausgabe einer Kennzeichnung als Gastbeitrag mit einer redaktionellen Erläuterung bedurft hätte.
Warum aber hielten wir es für angezeigt, unsere Leser:innen mit seiner Position bekannt zu machen, die erkennbar nicht die Position der Redaktion ist? Aus zwei Gründen: 1. weil uns nahestehende politische Kräfte im In- und Ausland versuchen, zu dieser, aus einer antistalinistischen Tradition kommenden Organisation eine politische Beziehung aufzubauen; 2. gerade weil Dudins Position »vor Widersprüchen strotzt«, wie Kreutz sagt, und damit einen Einblick in die Zwänge erlaubt, unter denen Sozialist:innen in der Ukraine stehen, die Russland nicht für einen natürlichen Verbündeten halten.
Ich lese den Text deshalb anders. Eine entscheidende Passage zitiert Kreutz z.B. nur zur Hälfte: »Wir bewerten [die] Entscheidungen [Selenskyjs] danach, ob sie die Ukraine dem Sieg näher bringen oder nur den Interessen der herrschenden Klassen dienen.« Ich verstehe den Satz so, dass mit der »Ukraine« nicht die herrschende Klasse, sondern die breite Bevölkerung gemeint ist, sonst wäre die Unterscheidung unsinnig. Wenn ich damit richtig liege, dann wird das Land und seine Bevölkerung gerade nicht mit der herrschenden Klasse gleichgesetzt, also gerade nicht Klasseninteressen unter den vermeintlichen Anforderungen einer nationalen Kraftanstrengung begraben – was wir mit Burgfrieden und Nationalismus beschreiben würden. Von Interesse schien mir das Interview deshalb, weil hier versucht wird, zwischen dem Klasseninteresse der Arbeiter:innen und der nationalen Verteidigung eine Balance herzustellen.
Kreutz liest den Text von seinem Ende her, dem »endgültigen Sieg«. Das wird dem Text aber m.E. nicht gerecht. Die Äußerung »Sozialnyj Ruch geht deshalb in erster Linie von den Klasseninteressen der arbeitenden Bevölkerung aus« ist ja nicht einfach dahingesagt, sondern wird als eine Lehre aus dem Maidan präsentiert. Sozialnyj Ruch (SR) hat sich demnach für diese Schwerpunktsetzung entschieden, weil die bestehenden linken politischen Kräfte als prorussisch diskreditiert waren und »sie … nicht beweisen [konnten], dass für sie Klassenfragen an erster Stelle standen«. In der Präsentation von SR auf S.5 derselben SoZ-Ausgabe sagt er: »Als der Krieg ausbrach, standen wir vor der konkreten Frage: Entweder wir lösen uns auf, oder wir ändern den Ansatz unserer Arbeit und versuchen, unsere Autonomie zu bewahren und auszubauen.«
Was heißt das? Ich lese es so: Sie wollten der Dichotomie geopolitischer Zuordnung – bist du für den Westen oder für den Osten? – entkommen. Sie wollten schon gar nicht als prorussisch gelten, weil sie das in die Gefahr gebracht hätte, ebenfalls verboten zu werden, vielleicht auch ihrer antibürokratischen Herkunft widersprochen hätte. Sie ziehen sich auf die sozialen Probleme zurück, weil sie hoffen, damit nicht zwischen die geopolitischen Fronten zu geraten, zwischen denen die Ukraine gerade zerrieben wird.
Worin besteht sein Widerspruch? Dudin bringt eine klare Gegnerschaft gegenüber der herrschenden Klasse in der Ukraine und ihrer Regierung zum Ausdruck (»die derzeitige neoliberale Politik … ermöglicht es den Oligarchen sich zu bereichern, dient aber nicht dem öffentlichen Interesse«); er setzt keine Hoffnungen in den Westen (»er kann den Sieg nicht garantieren«); er zielt trotzdem auf die Niederlage von Putins Armee, obwohl klar ist, dass die Linke auf die eigene Kraft gestützt die russischen Truppen nicht vertreiben könnte. Er distanziert sich auch von der extremen Rechten, den »populistischen Gefühlen«, die »den Krieg bis zum Endsieg, d.h. bis zum Zusammenbruch der Russischen Föderation« wollen.
Er scheint zu argumentieren: Wir können das besser, das Land von den russischen Truppen zu befreien, weil wir der Bevölkerung eine gesellschaftliche Perspektive geben würden und nicht nur von ihr verlangen, dass sie kämpft, aber die Früchte des Kampfes ernten die Oligarchen. Deshalb die sozialistische Umgestaltung als Bedingung für einen Sieg, der den Namen verdient. Das ist eine haarsträubende Illusion, dieses Argumentationsmuster ist mir bei Westlinken allerdings auch schon untergekommen. Geschenkt.
Wichtig erschien mir, dass er den Widerspruch zwischen den Klasseninteressen der ukrainischen Arbeiter:innen und der oligarchischen Führung des Krieges gegen die russische Invasion überhaupt zum Ausdruck bringt und nicht hinter der »Vaterlandsverteidigung« versteckt. Das befördert die Brüchigkeit im Verhältnis zu den Kriegsherren. Und es ermöglicht uns, dass wir in einen solidarischen Dialog treten, ohne mit unserer anderen Ansicht hinterm Berg zu halten.