„Bald wird es nicht mehr die Rote Armee sein, die Auschwitz befreit hat, sondern das Asow-Bataillon
Diesen klugen Satz hat die deutsch-französische Schriftstellerin Marie Rotkopf in der von ihr neu herausgegebenen und kommentierten Schrift „Deutschland über alles“ geschrieben. Verfasst hatte den Text der französische Soziologe Émile Durkheim 1915 während des Ersten Weltkriegs angesichts der brutalen Kriegsführung der deutschen Wehrmacht. Dazu zählte der deutsche Überfall auf das neutrale Belgien ebenso wie die massive Zerstörung belgischer und französischer Städte.
Der damals sehr bekannte linksliberale Soziologe Émil Durkheim hat in seinem letzten Buch vor seinem Tod 1917 einige Wahrheiten über den deutschen Imperialismus veröffentlicht, die, wären sie breiter rezipiert wurden, vielleicht die deutschen Verbrechen nach 1933 hätten verhindern können, weil man den Tätern früher in den Arm gefallen wäre. Das ist zumindest die Frage, die im Klappentext gestellt wird, dort heißt es: „Hätten wir Durkheim genauer zugehört, wär die Geschichte vielleicht einen anderen Weg gegangen.“
Wir wissen es nicht. Wir können aber in Durkheims Text lesen, dass damals schon bürgerliche Liberale wie er die besondere Aggressivität des deutschen Imperialismus erkannt haben. Dabei geht Durkheim genauer auf die Rolle des einflussreichen Historikers Heinrich von Treitschke ein.
Leider bleibt dessen Antisemitismus etwas unterbelichtet. Schließlich war er der Urheber des deutschen Antisemitismusstreits der Jahre 1879/80. Dazu hat der Suhrkamp-Verlag kürzlich eine lange vergriffene Dokumentensammlung neu herausgegeben, sie bestätigt Durkheims frühe Kritik an Treitschke.
Es ist erfreulich, dass der Verlag Matthes & Seitz diese Kritik wiederaufgelegt hat. An ihr gäbe es aus linker Perspektive viel zu kritisieren, vor allem Durkheims Lob der bürgerlichen Zivilisation, von der sich Deutschland angeblich entfernt hat. Besonders auffallend ist für heutige Leser:innen der Eurozentrismus des Textes, der die Kolonialverbrechen der so hochgelobten zivilisierten Welt an den Menschen im globalen Süden völlig ignoriert. Dazu gehören auch die Kolonialverbrechen von Deutschlands Gegnern im Ersten Weltkrieg wie England und Frankreich.
Trotzdem erfasst Durkheim die besondere Ausprägung des deutschen Nationalismus, seine Warnung vor dem deutschen Imperialismus ist auch nach 110 Jahren noch mit Gewinn zu lesen. Besonders, weil sich die Herausgeberin Marie Rotkopf kluge Gedanken über Durkheims Schrift gemacht hat. Dabei geht sie auch auf den neuen deutschen Militarismus ein, der sich in der unkritischen Parteinahme für „unsere Ukraine“ ausdrückt. Vor 30 Jahren wäre der schmale Band bei deutschlandkritischen Linken ein Beststeller geworden. Viele von ihnen haben heute die Parole „Nie wieder Deutschland“ durch „Nie wieder Russland“ getauscht und so verspätet doch noch Anschluss an die deutsche Volksgemeinschaft gefunden.
Peter Nowak
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