Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2023

Zur Diagonale 2023
von Kurt Hofmann

Auch in diesem Jahr kuratierten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber wieder ein vielfältiges Programm abseits der Routine. Es war die letzte von ihnen zusammengestellte Diagonale.


Der Riss
Österreich 2022
Regie: Paul Ertl
Die alte Pospisil geht allen auf die Nerven: ihrem Sohn, der endlich die Wohnung haben will, der neugierigen Hausmeisterin, die »nur helfen« will und dennoch von der Pospisil nicht in die Wohnung gelassen wird, und der Polizei, welche die Pospisil wegen »merkwürdiger Geräusche« in der Wohnung zu einem Einsatz genötigt hat.
Die Wohnung, das ist der Rückzugsort der alten Pospisil, die über die Jahre hinweg zu einer Menschenfeindin geworden ist. Vermutlich hat sie ihre Gründe, aber ihr Misstrauen gegenüber allem, was sich außerhalb ihrer vier Wände bewegt, wächst geradezu stündlich. Die Wohnung ist ein wenig verwahrlost und so verwundert es nicht, wenn sich plötzlich ein Riss in der Tapete zeigt. Ameisen kriechen heraus und werden zum neuen Feindbild der Pospisil, welche sie, teils fachgerecht, teils brachial, zu bekämpfen versucht. Der Ärger der Pospisil steigt, aber auch der eben zugekleisterte Riss bricht wieder auf. Nächtens hört die Pospisil dumpfe Geräusche. Hinter der Tapete wird ein seltsames Etwas sichtbar…
Der Riss erzählt von einer merkwürdigen Freundschaft. Wie sich eine alte Frau mit einem Monster, das hinter einer Mauer in ihrer Wohnung lebt und durch den Riss in ihrer Tapete sichtbar wird, anfreundet und eine Misanthropin wieder Freude am Leben findet. Freilich existiert dieses unförmige Wesen nur in ihrem Kopf, aber nun stellt sie sich vor, wie schön es wäre, wenn ihr wieder etwas Interesse entgegenbrächte, das sie nicht wie ihre menschliche Umgebung als Restmüll betrachtet.
Der Riss pendelt zwischen der Tragödie des Altwerdens – und Alleinseins, ohne dabei Sentiment zu bemühen – und einer Satire über eine Frau, die unentwegt mosert. Er verwendet dabei Horror- und Fantasyelemente (The Granny and the Beast) – nichts davon wirkt aufgesetzt.

Unrecht und Widerstand
BRD/Österreich 2022
Regie: Peter Nestler
Peter Nestlers neuer Film erzählt vom Danach. Dem »Tausendjährigen Reich« folgt die Bundesrepublik Deutschland und alles soll nun anders sein. Nazis erhalten ohne Probleme »Persilscheine«, denn man ist supersauber, es war nur ein böser zwölfjähriger Spuk. Dumm nur, dass die Gespenster der Vergangenheit nicht still zu kriegen sind. Obwohl man ja so gerne zur Tagesordnung übergehen würde. Also spricht man von Aufarbeitung und beauftragt damit diejenigen, die sich zuvor schuldig gemacht haben – gute Beamte sind rar.
In der neuen, supersauberen Bundesrepublik werden Roma und Sinti immer noch Zigeuner genannt und immer noch, Interviews mit Pas­sant:innen zeigen es, sind die alten Ressentiments gegen sie da. Eine, die einst für »Sonderbehandlungen« zuständig war, leitet nun ein Heim für schwer erziehbare Kinder, in dem sich ihre alten »Schützlinge«, Roma und Sinti, befinden (bzw. deren Kinder). Akten, die von Gräueltaten gegen Roma und Sinti berichten, werden hinter Verschluss gehalten, sie existieren »eigentlich« nicht.
Peter Nestler porträtiert in Unrecht und Widerstand mit Romani Rose einen, der sich den Geschichtsvergessenen entgegenstellt und Gerechtigkeit für Roma und Sinti einfordert, mit seinen Aktionen auch immer wieder riskiert, dort zu landen, wo die guten Deutschen Roma und Sinti am liebsten sehen: im Gefängnis.
Peter Nestlers Film über einen Unerbittlichen macht selbst keine Kompromisse und zeigt, wie bis weit in die 1970er und 1980er Jahre Roma und Sinti in der BRD als Menschen zweiter Klasse behandelt wurden (und wohl, trotz aller »Einsicht«, vielfach auch heute noch werden).

SS-Nr. … (Ein SS-Arzt in ­Auschwitz)
Österreich 1984
Regie: Bernard Frankfurter
Die filmgeschichtlichen Reihen von Synema sind immer zu loben. Diesmal widmet sich Synema dem früh verstorbenen Dokumentaristen Bernhard Frankfurter. 1984 entsteht SS-Nr. … (Ein SS-Arzt in Auschwitz).
Ein Gespräch vor dem Kamin: Frankfurters Gesprächspartner ist der ehemalige SS-Arzt Hans Wilhelm Münch, der von 1943 bis 1945 Leiter des »Hygieneinstituts« der Waffen-SS in Auschwitz war und dort, wie sein bekannterer Kollege Josef Mengele, so manche medizinische »Experimente« durchgeführt hat.
Frankfurter konfrontiert Münch, den einige der überlebenden Opfer entlastet und ihm in der Folge sogar zu einem Freispruch verholfen haben, höflich mit dessen Widersprüchen, geht auf dessen Charade als kaum beteiligter »Beobachter« des Grauens ein, als hätte er einen Staatsgast vor sich, von dem man weiß, dass diesem trotz seiner Funktion Blut an den Händen klebt. »Diplomatisch«, aber unerbittlich treibt Frankfurter Münch mit seinen Fragen in die Enge. Und das Kaminfeuer flackert auf – kein Höllenfeuer, aber ein Limbus, immerhin.

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