Von falschen Geschichten und möglichen Ansätzen
von Manuel Kellner
Rutger Bregmann: Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit
Hamburg: Rowohlt, 2022. 479 S., 15 Euro
Dieses Buch nicht zu lesen, wäre keine gute Idee. Es ist in 55 Sprachen übersetzt worden und erreicht seit Jahren weltweit hohe Auflagen. Überaus erfreulich ist, dass viele junge Leute es zur Kenntnis nehmen und sich davon inspirieren lassen.
Bregman erklärt, warum viele Menschen glauben, Hobbes hätte recht gehabt mit seiner Behauptung vom »Krieg aller gegen alle«. Der Mensch sei von Natur aus schlecht und aggressiv und müsse eben deshalb von Staaten mit ihren Unterdrückungsapparaten im Zaum gehalten werden. Dabei sei das Menschenbild von Rousseau in Wirklichkeit viel realistischer: Der Mensch ist von Natur aus gut, auf friedliches Zusammenleben und Zusammenarbeit mit anderen Menschen angelegt. Den »Sündenfall« datiert Bregman ähnlich wie diejenigen, die sich auf Marx und Engels berufen: Die Sache änderte sich vor etwa 10000 Jahren mit dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht, der Entstehung von Klassen zusammen mit dem Patriarchat, dem Eigentum und den Staaten.
In der Nachfolge von Marx und Engels stützte sich das zur bürgerlichen Ideologie alternative Menschenbild auf die »materialistischen« Strömungen der Aufklärung: Zum Beispiel bei Isaac Deutscher in Die sozialistische Konzeption vom Menschen oder bei den Bemerkungen von Ernest Mandel zur selben Frage in seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie. Demnach ist die »Natur des Menschen« von großer Plastizität: Die Umstände, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt, entscheiden darüber, wie er sich verhält. Es gibt viele gute Gründe für die Annahme, dass die Beseitigung der Klassenherrschaft und der kapitalistischen Geld- und Warenproduktion und die Überwindung der Staatlichkeiten Raum schaffen würden für alle seine »guten« Anlagen der Solidarität, der Kreativität und der Liebe.
Fake stories
Rutger Bregmann sieht das ähnlich, geht aber einen anderen Weg. Er untersucht das Verhalten der Menschen in großer Not und Bedrängnis. Dazu erzählt er viele Geschichten, die Generationen von uns geprägt haben wie Gemeinplätze. Zum Beispiel die rein erfundene Geschichte des Herrn der Fliegen von William Golding, wo einige Jugendliche, auf einer Insel allein gelassen, sich gegenseitig drangsalieren und umbringen. Bregman gräbt die wahre Geschichte vom »wirklichen Herrn der Fliegen« aus. Sie handelt von sechs Jungen zwischen 13 und 16 Jahren, die 1965 auf der unbewohnten unwirtlichen Felseninsel Ata im Stillen Ozean gestrandet waren. Als sie nach über einem Jahr dort entdeckt wurden, hatten sie eine regelrechte Kommune aufgebaut, mit viel Zusammenarbeit und originellen Konfliktlösungsverfahren.
Ein anderer Gemeinplatz ist in unseren Köpfen die Geschichte von Stanley Milgram und seiner Schockmaschine. Wir alle haben sie in der Schule zu hören bekommen. Die Probanden werden aufgefordert, den angeblichen »Testpersonen« bei falschen Antworten immer stärkere Elektroschocks zu verpassen, und siehe da, die meisten parieren. Also steckt in uns allen von Natur aus ein kleiner Hitler. Bregmann nimmt auch diese so massiv kolportierte Geschichte akribisch auseinander. Von der Aussage bleibt nichts übrig. Die Probanden wurden stark unter Druck gesetzt. Viele von ihnen glaubten zudem nicht an die Wirklichkeit der »Stromstöße«.
Bregman spricht auch von den Kriegen und gibt die vielstimmige Klage der Kommandeure wieder, dass sich Soldaten partout nicht gegenseitig umbringen wollen. Den Feind in Sichtweite will man nicht umbringen; die Bajonette werden notorisch nicht eingesetzt; man schießt daneben oder darüber. Nur Drogen und brutaler Drill ändern dieses Verhaltensmuster. Und vor allem die Distanz. Wir sind bereit uns gegenseitig umzubringen, wenn wir weittragende Waffen haben und nicht mitbekommen, was wir anrichten.
Distanz
Überhaupt ist die Distanz entscheidend für die Entwicklung von Aggressionen zwischen Menschengruppen. Sobald die Menschen dieser Gruppen sich persönlich kennenlernen, verschwinden sie. Bei großen Katastrophen, findet Bregman heraus, tendieren die Menschen zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Erst das Einschreiten der Staatsmacht bringt Chaos hervor. Hitler ließ London bombardieren, um die englische Bevölkerung zu demoralisieren, und erreichte das Gegenteil. Churchill dachte, das sei der britische Charakter und ließ später, mit derselben Idee, deutsche Städte bombardieren – mit demselben Ergebnis. Und das geht bis heute so.
Die großen Medien fehlerziehen uns laut Bregman in dieselbe Richtung wie die genannten Gemeinplätze. Geld verdienen sie mit negativen Schlagzeilen darüber, wie Menschen sich gegenseitig berauben, quälen und umbringen. Selbst sehr spektakuläre Fälle guter Erfahrungen, zum Beispiel mit Schulen und sogar Gefängnissen ohne Unterdrückung und Leistungsdruck, bleiben in aller Regel unerwähnt.
Bregman versucht Wege zu zeigen, wie diese Welt verbessert werden kann mithilfe der tatkräftigen Förderung und Propagierung von solidarischer selbstbestimmter Kooperation.
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