Schließen

Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

Bert Brecht hielt nicht viel vom Recht auf geistiges Eigentum. Wir auch nicht. Wir stellen die SoZ kostenlos ins Netz, damit möglichst viele Menschen das darin enthaltene Wissen nutzen und weiterverbreiten. Das heißt jedoch nicht, dass dies nicht Arbeit sei, die honoriert werden muss, weil Menschen davon leben.

Hier können Sie jetzt Spenden
PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 05/2023

Ukrainische Bergleute berichten über ihre Lage
von Jochen Gester

Im Rahmen einer Europa-Rundreise von Vertreter:innen der ukrainischen Bergarbeitergewerkschaft gab es auch einen Gesprächstermin in Berlin, zu dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen hatte. Die Gäste informierten u.a. darüber, dass in Deutschland ein Treffen mit Christina John von der Grundsatzabteilung der IG Metall stattgefunden hatte und in Frankreich SUD Solidaires wichtigster Organisator und Gastgeber war.

Die Bergarbeiter:innen gehören zu den traditionell kampfstärksten Abteilungen der ukrainischen Arbeiterklasse. Ihr Organisationsbereich, der Metall- und Bergbausektor, umfasst mehrere hunderttausend Beschäftigte. Juryj, der Leiter des regionalen Verbands von Krywyj Rih und Berg­arbeiter in der vierten Generation, berichtete, seine Gewerkschaft habe Anfang der 90er Jahre erste Streiks organisiert und sich dann aus der ehemaligen Staatsgewerkschaft gelöst. Damals sei es vor allem darum gegangen, die Oligarchen – er sprach von den »Banditen« – daran zu hindern, die Zechen dicht zu machen.
Die Keimzelle der neuen Gewerkschaft sei ein Streikkomitee gewesen. Inzwischen hat die neue Gewerkschaft 2500 Mitglieder. Mitglied werden nicht einzelne Werktätige, sondern die ganze Familie, dieses Prinzip wurde wohl noch aus sowjetischer Zeit übernommen.
Vor der russischen Invasion haben die Bergleute mindestens einmal im Jahr gestreikt. 2020 gab es einen großen Streik, in dem die Kumpel 48 Tage unter Tage blieben und die Frauen parallel dazu vor den Häusern der Oligarchen und des Präsidenten demonstrierten. Im Ergebnis konnten sie eine 30prozentige Lohnerhöhung durchsetzen und eine Anhebung des Rentenalters verhindern. Angesichts des starken Raubbaus an der Gesundheit in den Zechen lag dieses bei 45 Jahren, aktuell beträgt es 50 Jahre.
Marina, Juryjs Kollegin in der Reisedelegation, verbrachte ebenfalls 25 Jahre unter Tage und ist jetzt in Rente. Der Krieg führt auch in der Ukraine dazu, dass die Frauen viele Arbeiten der einberufenen Männer – auch die in der Gewerkschaft – übernehmen müssen. In den ersten Wochen des Krieges sammelten die Frauen Flaschen, um damit Molotow-Cocktails herzustellen. Sie organisieren Hilfen für Familien; kümmern sich um darum, dass die Kinder unterrichtet werden, auch wenn der Strom ausfällt; befestigen Leuchtbänder auf Straßen, in denen die Lampen ausgeschaltet sind; verteilen Pfefferspray, damit Frauen sich im Dunkeln gegen männliche Übergriffe wehren können.

Unter Druck
Die aktuelle politische Situation der Gewerkschaften ist schwierig. Sie sind zwar noch in der Lage, eine 1.-Mai-Demo durchzuführen, doch auch rechte Gewerkschaften, die nicht sehr zahlreich, aber sehr medienaktiv sind, versuchen den traditionellen Kampftag zu besetzen.
Ein legales Streikrecht existiert nicht. Bisher habe es nur einen legalen Streik gegeben, für dessen Legalität zwei Jahre lang gekämpft werden musste. Deshalb nennen sie ihre Streiks auch »Protestaktionen«.
Selbstverständlich ist der Druck groß, solche Aktionen zu unterlassen. Eine US-amerikanische Stiftung sei gerade dabei, ein neues Arbeitsgesetz zu erarbeiten, das die heutigen neoliberalen Standards festschreibt. Da es dagegen Einwände der EU gab, wurde es noch nicht vom Parlament verabschiedet und vom Präsidenten unterschrieben. Doch die Einwände beziehen sich auf mangelnde Bestimmungen rund um die Rechte von LGBTQ-Minderheiten.
Ein weiteres Problem der Gewerkschaft ist, dass das Management teilweise einfach abtaucht oder den Vertreter:innen der Beschäftigten den Zugang zum Betrieb verwehrt, obwohl z.B. der Stahlkonzern Arcelor Mittal mit seinen Gewerkschaften einen Kollektivvertrag abgeschlossen hat.
Juryj hob hervor, dass eine durchsetzungsstarke Organisation für sie das A und O für Veränderungen ist. Er möchte gern eine neue linke Partei aufbauen, die Arbeiter:innen und Intellektuelle zusammenführen kann. Soweit, so verständlich.

Diskussionsbedarf
Für meinen politischen Verstand allerdings fragwürdig waren die Vorstellungen, die die Delegation und mit ihr das noch nicht verbotene Spektrum der ukrainischen Linken mit dem weiteren Verlauf des Krieges verbinden.
Auch aus den eigenen Reihen der Gewerkschaft haben sich viele freiwillig zur Front gemeldet und hoffen auf einen militärischen Sieg gegen Russland. Dabei beklagte selbst Juryj, seine Organisation sei kaum in der Lage, selbst Fragen wie die nach den Folgen der Verschuldung der Ukraine gegenüber westlichen Gläubigern öffentlich zu diskutieren. In den Medien dominierten die »Blutthemen«.
Wer wird also die Ernte des »Sieges« einfahren? Es bedarf wohl einer »Frontverkehrung«. Denn der Krieg in der Ukraine ist ja nur vordergründig ein Konflikt zwischen Staaten und ihren Vorstellungen von nationaler Souveränität und Sicherheit. Die Klassenfronten verlaufen anders: Auf der einen Seite kämpfen ehemalige Akteure der sowjetischen Nomenklatura, die das frühere formelle gesellschaftliche Eigentum in ihr reales privates verwandelt haben, um die Verfügung über Menschen und Territorien. Die andere Seite schießt aufeinander, zahlt aber gemeinsam mit Verarmung und Leichen. Durch einen Schulterschluss mit ihrer jeweiligen Oligarchie kann weder die Arbeiterklasse in Russland noch in der Ukraine etwas gewinnen.
Die Träume in der ukrainischen Linken, nach dem Sieg mit den Oligarchen aufräumen zu können, sind Luftschlösser. Sie drücken eher aus, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen und sich anpassen, um zu überleben. Wir sollten sie in ihren sozialen Auseinandersetzungen nach Kräften unterstützen, aber in dieser Frage mit unseren Bedenken nicht hinterm Berg halten.

Teile diesen Beitrag: