Für eine tarifpolitische Kampagne für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung
von Thies Gleiss
Die IG Metall in der nordwestdeutschen Stahlindustrie diskutiert, in die kommende Tarifrunde mit einer Forderung nach Verkürzung der Wochenarbeitszeit für alle und bei vollem Lohnausgleich zu gehen. Das ist eine gute und wichtige Entscheidung, um auf die aktuelle und bevorstehende Herausforderung der großen strukturellen Veränderungen in der Produktion und in den Büros und auf die ständig wachsende Arbeitsbelastung zu reagieren.
Kürzere Arbeitszeit – mehr Zeit für das Leben, das könnte eine gute Forderung für alle Gewerkschaften sein. Aber es dürfen sich nicht die Fehler wiederholen, die in und nach der letzten großen Tarifrunde zur Arbeitszeitverkürzung 1984/85 gemacht wurden.
Die Lehren
Die Lehren aus dem Kampf um die 35-Stunden-Woche von 1978 bis 1995 sind eindeutig:
– Die Arbeitszeitverkürzung auf eine 28- oder 32-Stunden-Woche darf nicht wieder im Schneckentempo eingeführt werden, sondern muss als schneller Schritt erfolgen. Sonst wird die Verkürzung der Arbeitszeit durch Intensivierung und Verdichtung der Arbeit aufgefangen.
– Eine Viertagewoche ist schön, aber wichtiger noch wäre eine Verkürzung der täglichen Arbeitszeit. Erst das baut Stress ab, ermöglicht echte neue Jobs und ist vor allem besonders wichtig für eine andere Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen in Sachen Hausarbeit, Sorgearbeit und Kindererziehung.
– Die Verkürzung der Arbeitszeit muss nicht nur bei vollem Lohnausgleich erfolgen, sondern auch beim Personal darauf achten, dass tatsächlich neue Arbeitskräfte eingestellt werden und niemand wegen »Transformation« entlassen wird. In allen Bereichen sollten Forderungen nach Mindestbesetzung und Entlastungsverträgen aufgestellt werden, wie im Gesundheitswesen in den letzten Jahren. Neue Schichtpläne müssen Gegenstand konkreter Verhandlungen über Arbeitszeitverkürzung sein, es muss darauf geachtet werden, dass Schicht- und Nachtarbeit nicht ausgeweitet, sondern zurückgedrängt werden, um eine soziale und gesundheitliche Entlastung für die Beschäftigten zu erreichen.
– Die Gewerkschaften sollten auch nicht den Fehler wiederholen, die Arbeitszeitverkürzung als eine Win-Win-Lösung für Unternehmer und Beschäftigte zu verkaufen. Es geht um eine reale Umverteilung von Produktivitätszuwächsen zugunsten der Beschäftigten und um eine reale Verkürzung der Zeit der Ausbeutung der Arbeitskraft – um mehr Lebenszeit für die Lohnabhängigen. In der Vergangenheit sind leider auch etliche linke und fortschrittliche Gewerkschaftskräfte auf eine solche falsche Win-Win-Erzählung eingeschwenkt.
– Ohne eine breite gesellschaftliche Mobilisierung auch außerhalb der Betriebe, in Kirchen, Verbänden, Bildungsstätten und Stadtteilen wird auch die nächste Arbeitszeitverkürzung nicht durchsetzbar sein.
– Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit darf den Kampf um eine frühere Rente nicht ersetzen oder verdrängen. Die Verkürzung der Lebensarbeitszeit ist und bleibt ein unerlässliches Thema für die Gewerkschaften. Auch das wird aber nur durch eine politische Kampagne mit Unterstützung der LINKEN und anderen gewerkschaftsfreundlichen politischen Kräften durchsetzbar sein.
– Bei allen die Arbeitszeit betreffenden Tarifverträgen muss darauf geachtet werden, dass sie überbetrieblich für alle Beschäftigten gelten. Die Praxis der vergangenen Jahre, statt kollektiver Arbeitszeitverkürzung für alle nur individuelle und flexibel ausgehandelte Verkürzungen für einzelne Beschäftigte oder Beschäftigtengruppen einzuführen, hat in der Summe gerade nicht zu mehr Lebenszeit, Entlastung der Beschäftigten und gerechterer Verteilung der Arbeit auf alle, die arbeiten können und wollen, geführt.
Gegenpropaganda
Als der Bezirksleiter der IG Metall in Nordrhein-Westfalen, Knut Giesler, mit der Forderung nach einer Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich vorpreschte, waren viele überrascht. Bisher hatte insbesondere die IG Metall, aber auch die IG BCE auf diverse, meistens nur partielle Arbeitszeitkürzungen orientiert, nur in wirtschaftlichen Notlagen und vor allem nur ohne oder höchstens mit äußerst geringem Lohnausgleich. In mehreren bestehenden Tarifverträgen ist dies so verankert.
Sofort nach Bekanntwerden dieser Forderung der IG Metall rührten die Arbeitgeberverbände die Propagandatrommel. Wie immer sei das eine Forderung von gestern und unzeitgemäß. Es müsse nicht weniger, sondern länger gearbeitet werden. Neben der Rente erst ab 70 wären auch tägliche und wöchentliche, vor allem aber flexible Arbeitszeitverlängerungen erforderlich. Gleichzeitig begann der Krieg der Umfragen. Angeblich – so zuerst Bild, dann Stern – wäre eine klare Mehrheit der Beschäftigten (55–61 Prozent) gegen eine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. Auch, wen wunderts, die Chefriege der SPD – Arbeitsminister Heil, SPD-Chef Klingbeil u.a. – beeilte sich, die angebliche Untauglichkeit der Arbeitszeitverkürzung für alle zu behaupten.
Danach schlug die Hans-Böckler-Stiftung mit einer eigenen Studie zurück. Sie fand, dass 81 Prozent der Beschäftigten laut einer Umfrage unter 4000 Personen für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich sind.
Alle, die in Betrieb und Gewerkschaft aktiv sind, wissen, dass die Frage der Arbeitszeit das Spitzenthema unter den Beschäftigten ist. So gut wie alle wollen früher in Rente. Diejenigen, die einen Vollzeitjob haben, wollen gerne kürzer, diejenigen, die Teilzeit arbeiten, wollen gerne etwas länger arbeiten – sie treffen sich bei 28–30 Stunden in der Woche. Das wurde in diversen Umfragen in den Betrieben immer wieder und unabhängig von Konjunkturwetterlagen bestätigt. Allerdings fürchten viele, dass dies nur als Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich erfolgen könne – als die übliche Kurzarbeit wie bspw. in Krisenzeiten. Die Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich galt den meisten als »zu schön, um wahr zu sein«, sie trauen den Gewerkschaften schlicht nicht zu, eine solche Arbeitszeitverkürzung durchzusetzen – und viele Gewerkschaftssekretär:innen, Vertrauensleute und BR-Mitglieder haben dazu beigetragen, dieses schwindende Vertrauen in die Gewerkschaften zu bestätigen.
30 Stunden sind genug!
Eine der flächendeckenden Auswirkungen von Hartz IV war die Verlängerung der realen Arbeitszeit – der täglichen, wöchentlichen, monatlichen und Lebensarbeitszeit. In Begriffen der marxistischen Ökonomie ausgedrückt: Die Produktion des absoluten Mehrwerts geriet wieder ins Zentrum des ökonomischen Geschehens, durch absolute Lohnsenkungen und Verlängerung des Arbeitstags. Das hat zur Folge, dass die Produktion von relativem Mehrwert infolge von Produktivitätssteigerungen und Rationalisierungen zurückgeht und der heute so beklagte Facharbeitermangel forciert wird.
Insbesondere dort, wo gar keine Flächentarifverträge mehr gelten – das sind mittlerweile mehr als die Hälfte der Betriebe in Deutschland – stieg die durchschnittliche Arbeitszeit wieder an. Tarifvertraglich geregelt beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit 37,2 Stunden, ohne Tarifverträge sogar gut 39 Stunden. Dazu kommen alle Formen entgrenzter Arbeitszeit, 2 Milliarden Überstunden, die Hälfte davon unbezahlt, sowie diverse Verfahren zu einer Arbeit ohne Ende und Aufhebung der Trennung von beruflichem und privatem Leben.
Deshalb ist eine tarifpolitische Kampagne für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung wichtig und überfällig. Sie muss durch eine betriebliche und überbetriebliche, gesamtgesellschaftliche, kämpferische Aufstellung der Gewerkschaften und aller anderen gesellschaftlichen Bewegungen durchgesetzt werden.
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