Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2023

Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei hat sich das Lagerdenken verfestigt
von Ayse Tekin

Die Parlamentswahlen in der Türkei sind vorbei. Die Wahl des Präsidenten wird in der zweiten Runde entschieden. Der Kandidat des Regierungsbündnisses, Erdogan, hat einen für ihn angenehmen Vorsprung; der Kandidat der Opposition, Kilicdaroglu, zeigt sich kämpferisch, hat aber noch keinen Plan, wie er die fehlenden Prozentpunkte holen will.

Die Wahlpropaganda war von zwei Gefühlen beherrscht: Angst vor Machtverlust und Hoffnung auf Veränderung. Beide Teile der Wähler:innen empfanden die Präsidentschaftswahl als eine Schicksalswahl. Die eine Gruppierung ist jetzt erleichtert, die andere möchte am liebsten auswandern.
Die Politik mit der Angst wurde vom Regierungsbündnis befeuert: »Terroristen würden die Macht übernehmen und ihresgleichen aus den Gefängnissen befreien«; »Agenten des Westens würden die Türkei übernehmen«; »die glorreichen Projekte wie Waffenproduktion würden beendet«; »Frauen mit Kopftüchern würden es wieder schwer haben«.
Dagegen hat das Versprechen des Oppositionskandidaten, allen Identitäten in der Gesellschaft gegenüber eine Versöhnungspolitik führen zu wollen, bei den Wähler:innen des Regierungslagers nicht gewirkt. Der Oppositionskandidat hat seine Identität als Alevit verteidigt und seinen Willen, die Probleme der Kurden im Parlament zu lösen, bekräftigt. Er wirkte glaubwürdig, das auch tun zu können, obwohl in seinem Lager auch eine nationalistische Partei gegen Kurden und syrische Migrant:innen agiert.
Leider haben diese Versprechen nicht die notwendige Mehrheit gebracht. Mehr noch: Es gab einen Rechtsruck im Parlament. Es ist das am stärksten rechtsextreme, islamistische Parlament in der Geschichte der Türkei. Die rechten Parlamentarier:innen kommen aus beiden Lagern, aus dem Regierungsbündnis wie aus dem Oppositionsbündnis.
Beide haben um die Unterstützung jeder Stimme gebuhlt und ihre Listen gegenüber den radikalen oder konservativen Kandidat:innen geöffnet. So wurden durch das Bündnis von Erdo?an vier Personen aus der, der Hisbollah nahestehenden, sunnitisch-kurdischen Partei ins Parlament gewählt, die für die Morde in diesem Gebiet verantwortlich gemacht wird.
Dagegen gab es ein drittes Bündnis der linken Parteien, wobei eine der Beteiligten, die Türkische Arbeiterpartei (TIP), bei den Parlamentswahlen auf eigenen Listen und Kandidaturen bestanden hat. Das hat einige Diskussionen im linken Lager verursacht, die nach den Stimmenverlusten bei den Parlamentswahlen weitergehen werden. Diese Partei, die sich als sozialistisch bezeichnet, hat durch die Bündnispolitik die 7-Prozent-Hürde überwunden und über eigene Listen vier Abgeordnetensitze gewonnen.

Die Türkische Arbeiterpartei
Die TIP war eine der Gründerinnen des dritten Bündnisses, dem »Bündnis für Arbeit und Freiheit«, dessen größter Partner die kurdische HDP ist. Als die TIP auf eigenen Kandidaturen bestand, gab es Vorwürfe aus der HDP, die Stimmen würden dadurch gespalten. Dagegen betonte die TIP, sie werde dort, wo die HDP stark ist, nicht antreten und nur dort Kandidat:innen aufstellen, wo sie sichere Ergebnisse erwartet. Die Partei, in der auch andere linke Gruppierungen arbeiten, hat zuletzt 40000 Mitglieder erreicht, was in der Türkei eine Sensation ist.
Sie versteht sich als Klassenpartei. Die Parlamentarier:innen der TIP betonen dies in ihren Auftritten im Parlament und/oder auf der Straße. Auch wenn sich unter den alten wie den neu gewählten Parlamentari­er:innen keine Arbeiter:innen befinden, wurde auf ihren Listen die Klassenzugehörigkeit berücksichtigt. Sie wird von Wähler:innen bevorzugt, die keine Identitätspolitik entlang von Nation und Religion mehr wollen, die sich nicht zu einer Ethnie, Religion oder anderer individueller Orientierung zugehörig fühlen, sondern ihre sozial abhängige Situation betonen wollen. Das ist sicherlich eine berechtigte Position.
Ob bei diesen Wahlen auf Klassenpolitik hätte verzichtet werden sollen, wird noch lange diskutiert werden. Denn nicht nur durch die Wahltaktik der TIP, sondern auch durch die Stimmenverluste der HDP wurde die Gesamtzahl der Abgeordneten des dritten Bündnisses auf 67 reduziert.

Das Lagerdenken
Von den 63 Abgeordneten der HDP sind 31 weiblich, aus der TIP kommt eine Frau. Insgesamt besetzen Frauen 121 von 600 Sitzen im türkischen Parlament, das ist ein Viertel der Abgeordneten. Darunter sind einige Frauen, die aus der Frauenrechtsbewegung bekannt sind. Nicht zuletzt ist das ein Erfolg der feministisch orientierten Frauen in der HDP und der Bereitschaft der Partei, sich in dieser Hinsicht zu verändern. Denn die HDP achtet sehr auf die Quote bei der Listenaufstellung, und die Frauen stärken ihre Partei durch Verankerung in der Gesellschaft. Aus anderen Parteien gibt es weibliche Abgeordnete, die durch ihre homo- und transphobischen Aussagen bekannt sind.
Die Spaltung der Gesellschaft, die Spaltung der Linken, die festen Lager und deren fatalistisches Zukunftsgefühl sind die Merkmale der Wahl in der Türkei. Diese feste Spaltung und die fast Weltuntergangstimmung in beiden Lagern, sollten sie nicht gewinnen, ist vielleicht in der Türkei besonders ausgeprägt, aber nicht nur dort vorhanden. Ungarn, Brasilien, Argentinien sind andere Beispiele, wo das Lagerdenken besonders ausgeprägt ist und deren rechtskonservative Politiker das Schüren von Angst besonders beherrschen.
Manchmal siegt die Hoffnung auf Veränderung, aber oft auch die Angst vor der Veränderung. Die Lösung liegt möglicherweise in der mühsamen Arbeit der Aufklärung, dem Aufeinanderzugehen und Haltung bewahren.

Die Autorin ist Journalistin und ­Türkeiexpertin.

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