Die Zurichtung des Leibes und die Entwicklung von Klassenbewusstsein
von Angela Klein
Wolfgang Hien: Die Arbeit des Körpers von der Hochindustrialisierung bis zur neoliberalen Gegenwart. Wien: Mandelbaum, 2022. 364 S., 25 Euro
Das Buch behandelt die Geschichte der deutschen und österreichischen Arbeiterbewegung aus der Perspektive der Vernutzung von Körper und Seele der Arbeiterinnen und Arbeiter. Betrachtet werden vor allem die Arbeitsbedingungen in der Grundstoffindustrie (Kohle und Chemie), der Stahlindustrie, Metallverarbeitung, Druckindustrie, in der Textilindustrie und in den Firmenbüros.
Es ist eine Geschichte der Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten – wie das Kapital damit umgeht, wie die Gewerkschaften und wie die Arbeitenden selber damit umgehen. Es ist eine Geschichte der kapitalistischen Ausbeutung, die sich nicht auf den Kampf um den Tauschwert der Ware Arbeitskraft konzentriert, sondern höchst anschaulich in den Mittelpunkt rückt, was diese Ausbeutung mit den Menschen macht, wie sie sie manchmal buchstäblich von innen zerfrisst, so dass eher erstaunlich ist, woher sie die Kraft nehmen sich zu wehren.
Hien legt großen Wert darauf, dass selbst unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen Widerstand geleistet wird – oft ohne Unterstützung der zuständigen Gewerkschaft, der Betriebsräte oder der Arbeiter:innen in besseren Positionen. Es ist also auch eine Geschichte der »Arbeiterbewegung von unten«, in der Tradition des italienischen Operaismus. Anschaulich schildert Hien, wie die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen in einem Betrieb für Spaltungslinien sorgen. Deren Überwindung ist eine Bedingung für die Herstellung von Klassenbewusstsein.
Das ganze Buch hindurch führt er Klage gegen die Gewerkschaftsführungen, die diese Aufgabe ablehnen und sich in der Regel einen Deut um die realen Arbeitsbedingungen kümmern, die Leib und Leben ihrer Mitglieder verschleißen. In dieser Klage und im Anknüpfen an die realen Arbeitsbedingungen kann sich Hien eins wissen mit Marx, der einst denselben Vorwurf an die Gewerkschaften richtete und einen Großteil seiner Einsichten in das Funktionieren der kapitalistischen Mehrwertproduktion den Berichten der britischen Fabrikinspektoren entnahm, die er seitenweise zitierte.
Ein Stiefkind
Nüchtern beschreibt Hien, wie Lärm, Staub, Dreck, Hitze und Kälte, Unbeweglichkeit, Eintönigkeit, ätzende Chemikalien, Sauerstoffmangel u.v.a. den Arbeitsalltag zur Hölle machen – wesentliche Verbesserungen traten erst Ende der 70er Jahre ein, als die Strukturkrise dieser Industrien bereits in vollem Gang war, betont er. Lohnarbeit ist oft – nicht immer und nicht für alle – ein Gewaltverhältnis – gegen Körper, Nerven, Geist und Seele. Daran hat sich wenig geändert, wenn man hierzulande auf die Pflegekräfte, die Bahnangestellten, Busfahrer:innen, die Reinigungskräfte – kurz: auf den Niedriglohnsektor und die Dienstleistungsberufe blickt. Es hat sich gar nichts ändert, wenn man auf die Verhältnisse in den Betrieben schaut, die aus Deutschland in Billiglohnländer verlagert wurden – Rana Plaza lässt grüßen.
Dennoch ist Arbeiterschutz, wie es korrekterweise heißen müsste – nicht: Arbeitsschutz! –, bis heute ein von Betriebsräten und Gewerkschaftsvorständen ungeliebtes Thema, bringt er die Interessenvertretungen doch in einen Dauerkonflikt mit Geschäftsleitungen, weil er den zentralen Nerv der kapitalistischen Ausbeutung, die Versklavung und den Ruin der menschlichen Arbeitskraft zum Thema macht. Hien hat das als ehemaliger Gesundheitsreferent beim DGB selber hautnah erfahren.
Gesundheit am Arbeitsplatz spielt aber auch in Strategien der politischen Linken keine Rolle – nicht für ihre Verankerung in den Betrieben, nicht für die Brechung kleinbürgerlicher Bewusstseinsmuster, nicht einmal im Entwurf gesellschaftlicher Alternativen und Utopien. Linke Ignoranz gegenüber den Auswirkungen der Pandemie und der Corona-Politik in den Betrieben sind nur das letzte Beispiel dafür.
Vielleicht hängt der Mangel an Glaubwürdigkeit linker Projekte ja auch damit zusammen, dass gesellschaftliche Veränderung immer noch hauptsächlich als Vergesellschaftung des Eigentums und kaum als reale Verbesserung der Lebensverhältnisse gedacht wird. Die sind aber für die täglichen Opfer der kapitalistischen Ausbeutung das Wichtigste. Am Beispiel der DDR, aber auch der Beschränktheit sozialstaatlicher Einrichtungen, kann Hien sehr schön zeigen, dass auf dem Boden des verstaatlichten Eigentums noch keine freie und selbstbestimmte Gesellschaft entsteht.
Verbinden
Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage: Warum ist das so?, stößt Hien auf einen Mechanismus, ohne den die Kapitalherrschaft nicht denkbar wäre, denn: »Der Herr ist solange Herr, wie der Knecht ihn als solchen anerkennt«, wie es bei Hegel heißt. Sein Herrschaftsanspruch muss verinnerlicht werden, und das geht über das Verhältnis zur Arbeit, die ja, wie Marx sagt, dem Menschen im Kapitalismus nicht nur als seine äußerste Entfremdung gegenübertritt, sondern ihm zugleich ein inneres Bedürfnis ist.
Die Spaltungen und Schichtungen der Arbeiterklasse bedingen u.a., dass ihre jeweiligen Teile ein sehr unterschiedliches Verhältnis zu ihrer Arbeit haben. Der Stolz auf die eigene Arbeit, aus dem ein Facharbeiter sein Selbstbewusstsein zieht, ist begreiflicherweise dort nicht zu finden, wo Arbeit eine tagtägliche Qual bedeutet und ihre Früchte durch die Zerstückelung der Tätigkeit unsichtbar werden – bei den Un- und Halbqualifizierten, die in einem Betrieb die gesundheitsschädlichsten, gefährlichsten und stumpfsinnigsten Arbeiten ausführen müssen. Sie wollen ihr einfach nur entkommen.
Welche Perspektiven für eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ergeben sich daraus? Hien ist ehrlich genug, dass er diese Frage nicht eindeutig beantwortet. Von der Facharbeiterschicht erhofft er sich wenig. Ihr wirft er vor, sie habe, dank besserer Arbeitsbedingungen und innerbetrieblicher Aufstiegsmöglichkeiten den stummen Zwang der Verhältnisse verinnerlicht und sich damit arrangiert – ebenso wie Arbeiterparteien diese in der parlamentarischen Interessenvertretung verinnerlicht haben; sie sei(en) grundsätzlich reformistisch gestimmt.
In den 70er Jahren haben sich an dieser Frage in linken Organisationen spaltarische Debatten entzündet, wer denn nun das revolutionäre Subjekt sei, der Facharbeiter oder der sog. Massenarbeiter? Bei allem Fokus auf die Geplagten auf den untersten Rängen zeigt Hien am Beispiel der Novemberrevolution auch deren strategische Schwäche auf: »Die Masse der radikalisierten ungelernten Arbeiter forderte ein Ende von Unterdrückung und Ausbeutung, freilich ohne detaillierte Gestaltungsideen. Die einzige klare Forderung war die nach dem Achtstundentag und in vielen Fällen auch die nach Abschaffung der Akkordarbeit. Dies waren die inhaltlichen Schnittmengen mit den Vorstellungen der Facharbeiter, die auszubauen freilich die politische Arbeiterbewegung versäumte.«
Kommentar zu diesem Artikel hinterlassen
Spenden
Die SoZ steht online kostenlos zur Verfügung. Dahinter stehen dennoch Arbeit und Kosten. Wir bitten daher vor allem unsere regelmäßigen Leserinnen und Leser um eine Spende auf das Konto: Verein für solidarische Perspektiven, Postbank Köln, IBAN: DE07 3701 0050 0006 0395 04, BIC: PBNKDEFF
Schnupperausgabe
Ich möchte die SoZ mal in der Hand halten und bestelle eine kostenlose Probeausgabe oder ein Probeabo.