›Nichts wird sie aufhalten, deshalb müssen sie gestoppt werden‹ – über das Regime von Emanuel Macron
von Joseph Andras
Nach der Verabschiedung der Rentenreform erinnert der Schriftsteller Joseph Andras an die Gewalt einer Macht, die »ihren ›demokratischen Weg‹ gegen die Demokratie« verfolgt. »Die Weisheit, das ist die Revolution.«
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Macron soll gehen: Diese Aussage ist so offensichtlich, dass man beim Schreiben fast errötet.
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Nahezu alle Lohnabhängigen lehnen die Rentenreform ab. Noch nie, das belegt jede Umfrage, war der Monarch so isoliert. Wo immer ein Vertreter des Macronismus im Lande auftaucht, wird er ausgebuht. Eine norwegische Sängerin, die im April im Olympia auftrat, bat ihr Publikum, ihr ein paar Worte Französisch beizubringen, und das Publikum improvisierte im Chor: »Macron démission!« Die von den Gelbwesten angestoßene Formel hat inzwischen den Status eines Kulturerbes (irgendwo zwischen Baguette und Piaf). Bald wird nur noch Nemo den Monarchen unterstützen (sein Hund, ein Labrador, gekreuzt mit einem Vorstehhund). Aber der macronistische Zweig des Kapitals ist unerbittlich.
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Das Volk lehnt die Reform ab: Der Monarch setzt seinen Kurs fort. Die Nationalversammlung will die Reform ablehnen: Der Monarch greift erneut zum »provozierten Misstrauensvotum«. Zwischen dem Monarchen und der Straße – dem wahren Parlament des Volkes – stehen wieder einmal nur die Bullen. Wenn man sie abzieht, kommt es zur Flucht nach Varennes. Man muss sich das Foto von einem der Flügel des Palais Royal, das an diesem 13.April aufgenommen wurde, zweimal ansehen, um sich davon zu überzeugen, dass man sieht, was man sieht: eine Menge bewaffneter Männer mit blauen Helmen und Schilden, die vor dem Sitz des Verfassungsrats lagert. Die neun Mogule, die dort untergebracht sind, sollten ein Urteil fällen, das ebenso erwartet wie uninteressant war.
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Müllcontainer brennen und der selbsternannte Inhaber der »legitimen physischen Gewalt« jault auf. Die Hofmedien werden nicht müde, ihre um Demokratie bemühten Gastgeber zu fragen: »Verurteilen Sie die Gewalt?« Wir verurteilen sie nicht. Oder besser gesagt, wir verurteilen die Gewalt der erzwungenen Ordnung. Wir verurteilen die Angriffe des Regimes auf den Willen des Volkes. Wir verurteilen die gewöhnliche Wut der Söldner des Regimes: Wer wird – um bei der aktuellen Situation zu bleiben – Sébastien, dem Eisenbahner aus Seine-et-Marne, der von einer Granate getroffen wurde, das Auge zurückgeben? Wer gibt Laurie, der Schülerin aus Chambéry, die von einem Gummigeschoss getroffen wurde, ihre Milz zurück? Wer gibt dem jungen Kesselschmied und Schweißer aus Laval, der von der CRS beschossen wurde, seine Hoden zurück? Wir verurteilen diese aufgezwungene Ordnung, die ihren Führungskräften eine Lebenserwartung von 84 Jahren und ihren Arbeitern eine um durchschnittlich 6,4 Jahre kürzere Lebenserwartung beschert.
Da haben wir die Gewalt. Der Rest ist nur eine Frage der taktischen Diskussionen und der Selbstverteidigung.
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Ein ehemaliger Abgeordneter sagte 1984: »Diejenigen, die das ganze Gericht auf ihrem Teller haben und die Teller der anderen leer lassen, und die alles haben, sagen mit einem guten Gewissen: ›Wir, die wir alles haben, sind für den Frieden!‹ Ich weiß, was ich ihnen zurufen muss: Die ersten Gewalttäter, die Anstifter aller Gewalt, seid ihr!« Zweifellos würde er heute auf der Terrorliste stehen und, zusammen mit den Soulèvements de la Terre und der Liga der Menschenrechte, von einem radikalisierten Neomacronisten, der als Darmanin bekannt ist, öffentlich bedroht. Dieser Abgeordnete hieß Pierre und war von Beruf Abbé.
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Natürlich, Macron. Natürlich, Darmanin. Natürlich, die Regierungsclique. Der erste sagte: »Ich will Geld verdienen, um reich zu werden, bevor ich in die Politik gehe«, und er sagte es nicht nur: er tat es. Der zweite ähnelt
in jeder Hinsicht dem schillernden Porträt, das Marx einst im Jahr 1871 von Thiers zeichnete: »Ein Meister kleiner Staatsschufterei, ein Virtuose des Meineids und Verrats, ausgelernt in allen den niedrigen Kriegslisten … sein Privatleben so infam, wie sein öffentliches Leben niederträchtig – kann er nicht umhin … die Scheußlichkeiten seiner Taten zu erhöhen durch die Lächerlichkeit seiner Großtuerei.« Die dritte Gruppe ist ein undifferenziertes Sammelsurium von Millionären.
Natürlich verdienen diese und jene eine energische Kritik. Aber Kritik ist zermürbend. Und sie verfehlt ihr Ziel, sobald sie sich nicht in eine positive Formulierung einfügt. Macron, Darmanin und die besagte Clique sind immer nur die Gesichter der kapitalistischen parlamentarischen »Demokratie«. Andere haben dasselbe vor ihnen getan, andere werden es nach ihnen tun. Auch wenn sie nicht geboren worden wären, wäre Frankreich so geworden. Denn das Wichtigste in der Politik ist die aufgezwungene Ordnung – ihre Strukturen, ihre Institutionen, ihre Bauten.
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Wenn der Abgeordnete der Mitte Charles de Courson zu einer führenden Figur der Opposition gegen die extreme Mitte wird, dann stimmt etwas nicht. Und dieses »etwas« führt uns direkt zu den oben erwähnten Strukturen. Denn Macron abgesetzt und Darmanin eingesperrt – das lässt die auferlegte Ordnung unverändert. Sie muss ganz und gar umgestaltet werden, um die Ankunft der zukünftigen Macron, Darmanin und Millionäre unmöglich zu machen. Diese strukturelle Neugestaltung ist keine konzeptionelle oder kämpferische Kühnheit: Die Menschheit liebt es übrigens, sie als einen einzigartig würdigen Moment des Denkens, der Kunst und des Diskurses zu feiern – »Revolution« nennen wir das. In Frankreich glaubt man sogar, nicht ohne Grund, dass dies ihr wahres Geburtsdatum ist (denn vor 1792 musste man die tägliche Beleidigung ertragen, ein Untertan zu sein).
Die Anbeter der Ungleichheit gefallen sich in unserer Ära darin, die Menschenrechte, die Abschaffung der Privilegien und das allgemeine Wahlrecht zu bejubeln. An jedem 14.Juli verwandeln sie mit großen Flugzeugen den Himmel in eine Trikolore und betiteln eine ihrer Wahlkampfbroschüren mit dem Wort »Revolution«. Sie begrüßen eine von der Revolution gereinigte Revolution. Sie schmücken sie aus, um zu verhindern, dass das Volk dort weitermacht, wo die Älteren aufgehört haben.
Denn die Privilegien, das wissen sie, müssen noch abgeschafft werden.
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Unter Revolution ist heute Folgendes zu verstehen: ein Prozess, durch den die kollektive Organisation des Lebens, die gewöhnlich von einer reichen Minderheit beschlagnahmt wird, schließlich zur Angelegenheit des einfachen Volkes wird.
Revolution ist also Demokratie – ohne Anführungszeichen.
Der Staat ist fünf- bis sechstausend Jahre alt. Der Kapitalismus drei bis sechs Jahrhunderte. Der Parlamentarismus drei Jahrhunderte. Der Homo sapiens 300000 Jahre. Die Anbeter der Ungleichheit schwören jedoch, dass der Parlamentarismus der endlich gefundene Rahmen, die nicht hinterfragte Endstation unserer Spezies ist. Lachen wir einfach darüber.
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Alles bleibt noch zu tun.
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Man kann sich in der Hoffnung, das Leben der Menschen lebenswerter zu machen, mit dem Tagesgeschäft befassen (Wahlen, Gesetzesvorschläge usw.). Man kann versuchen zu korrigieren, zu ergänzen, zu retuschieren: man kann Reformist sein. Reformen – die wirklichen – sind gelegentlich innerhalb des betreffenden Rahmens sinnvoll.
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Diese Ordnung hat keine Legitimität und schreitet unter den Farben des Macronismus voran. Bei den letzten Parlamentswahlen haben sich jedoch 11 Prozent der registrierten Wähler für den macronistischen Zweig des Kapitals ausgesprochen. Das ist viel angesichts des Spektakels, das er uns bietet, aber im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung ist das nichts. Mit anderen Worten: Es ist nichts wert.
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Wenn 11 Prozent der registrierten Wähler ein ganzes Land als Geisel halten, bedeutet Realismus Revolution.
Wenn von den 1950er bis zu den 2020er Jahren die Wahlenthaltung von 22 auf 53 Prozent gestiegen ist und das Ergebnis eines Referendums 2005 mit Füßen getreten wurde, ist Weisheit Revolution.
Wenn sich ein regionaler IPCC-Bericht gegen landwirtschaftliche Megabassins ausspricht, nachdem die Söldner des Regimes einen Verteidiger der lebendigen Welt ins Koma versetzt haben, ist Pragmatismus Revolution.
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Die Anbeter der Ungleichheit verbinden die revolutionäre Idee mit ihren dunkelsten historischen Taten. Wir kennen sie genauso gut wie sie. Wir könnten sogar hinzufügen: gründlicher als sie. Das liegt daran, dass wir uns für die Taten jeder Revolution auf der Welt verantworten müssen. Wir verschweigen die Misserfolge, Missetaten und Verbrechen nicht: Sie machen die Idee nicht ungültig; sie sind nur ein Ansporn für uns, es besser zu machen. Und wir sagen gemeinsam, was diese Leute verschweigen: Die beiden Weltkriege, der Einsatz von Atomwaffen und die kolonialen Schlächtereien wurden von gewählten Vertretern, Liberalen, Repräsentanten und Parlamentariern verursacht.
Wann wird das Schwarzbuch unserer »Demokratien« veröffentlicht?
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Das Volk wird nicht beachtet. Die Straße wird nicht beachtet. Die Gewerkschaften, selbst die fügsamsten, werden nicht beachtet. Die Nationalversammlung wird nicht beachtet. Der Monarch, seine Abgeordneten, seine Söldner und seine Medien setzen – man kann es nicht erfinden – ihren »demokratischen Weg« gegen die Demokratie fort. Nichts wird sie aufhalten; deshalb muss man sie aufhalten. Der vorgegebene Rahmen lässt dies, wie wir gesagt haben, nicht zu; es bleibt nur, einen anderen Rahmen zu fördern. Formulieren wir ihn auf positive Weise. Machen wir ihn überall sichtbar.
Bekräftigen wir diese Möglichkeit, die weit über die Kritik der einen oder der anderen, über die flüchtige und machtlose Negativität hinausgeht. Die Aufgabe steht allen offen: im Bistro, in der Gewerkschaft, im Büro, am Kaffeeautomaten, im Sportverein, auf Streikposten, im Garten, in der Zeitung, an einer improvisierten Barrikade oder an einem Tisch (und sogar an einem Schreibtisch…). Der Übergang von einem Rahmen zu einem anderen erfolgt also durch die Übernahme des Daseins durch die Bevölkerung – die Revolution. Das bedeutet den organisierten, massiven, methodischen und beharrlichen Aufbau neuer Strukturen, die die Macht an das Volk übergeben. Überall hat die Menschheit diese Aufgabe »Sozialismus« genannt. Oder »Kommunismus«. Es ist ein und dasselbe. Im wesentlichen das gute Leben für die vielen. Ein würdiges Leben für die Besitzlosen. Ein schönes Leben für die Benachteiligten. Ein gerechtes Leben für die Ausgegrenzten. Ein Leben in »makelloser und uneingeschränkter Gleichheit« (Gracchus Babeuf).
Es bleibt nichts anderes übrig.
Leicht gekürzt nach: https://interventions-democratiques.fr/articles/rien-ne-les-arretera-il-faut-donc-les-arreter
Joseph Andras (geb.1984) veröffentlichte 2016 seinen ersten Roman, De nos frères blessés (dt. Die Wunden unserer Brüder, Hanser, 2017). Thema des Buches ist das Schicksal Fernand Ivetons, der sich für die Unabhängigkeit einsetzte und 1957 während der Regierung Coty, der auch François Mitterrand als Justizminister angehörte, hingerichtet wurde. 2018 erschien mit Kanaky (dt. 2021 bei Hanser) sein zweiter Roman, der das Schicksal des kanakischen Unabhängigkeitskämpfers Alphonse Dianou behandelt.