Wer kann schon von sich sagen, ein Gedankengang gehöre ihm?

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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 06/2023

Auch die neuen Automaten beruhen auf Lohnarbeit – zu einem erheblichen Teil auf Niedriglohnarbeit
von Matthias Becker

Die Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI) schreitet voran. Mit ChatGPT werden ganz neue Anwendungen möglich. Die sogenannten großen Sprachmodelle (LLM – Large Language Models) können übersetzen, zusammenfassen, im Internet recherchieren und auf Fragen antworten, sogar Computerprogramme schreiben – scheinbar ohne menschliches Zutun. In Wirklichkeit beruhen auch Computerprogramm wie ChatGPT auf Arbeit, genauer gesagt: auf Lohnarbeit.

Die Arbeitsverhältnisse hinter der KI unterscheiden sich erheblich. Sie reichen von hochqualifizierten Computeringenieuren in den Metropolen über Beschäftigte in Callcenters, die die Systeme beaufsichtigen, bis zu digitalen Hilfsarbeitern im globalen Süden. Diese globale Arbeitsteilung ist möglich, weil es sich bei dem Arbeitsgegenstand um Daten handelt, die mühelos über das Internet verschoben werden können.

Big Data Business
ChatGPT ist nicht das einzige große Sprachmodell, das gegenwärtig auf den Markt drängt. Der Technologie wird zugetraut, zu einem »Rationalisierungsmotor« in der Büroarbeit und im Mediensektor zu werden, aber auch die Digitalbranche selbst umzuwälzen.
Die Karten im Big-Tech-Sektor werden neu gemischt. Microsoft hat angekündigt, ChatGPT in seine Softwareprodukte wie bspw. Word, Outlook und Powerpoint einzubauen. Auch seine Suchmaschine Bing will Microsoft mit dem KI-Chatbot aufwerten. Der Konzern hat 10 Milliarden US-Dollar in OpenAI gesteckt, das Unternehmen hinter ChatGPT. Seit Frühjahr wird OpenAI mit 29 Milliarden US-Dollar bewertet und ist damit das kapitalstärkste Unternehmen im KI-Sektor.
Unterdessen treibt Meta (Facebook) seinen Chatbot »LlaMA« voran, Alphabet (Google) »Bard«. Auch Amazon setzt laut Aussagen des Vorstandsvorsitzenden Andy Jassy vom April auf die LLM-Technologie, ebenso Apple.
Die neue Technologie wird somit von dem alten Oligopol vorangetrieben: Microsoft, Facebook, Google. Das ist kein Zufall, denn um ein LLM, ein großes Sprachmodell zu entwickeln, sind viel Zeit, Geld und Mühe nötig. Der Betrieb von ChatGPT kostet laut Angaben des Unternehmens im Moment 700000 US-Dollar pro Tag. Ein großer Teil davon wird für Strom und Rechenkapazität ausgegeben.
OpenAI hat begonnen, Gebühren für ChatGPT zu verlangen, die aber die Kosten für Entwicklung und Betrieb nicht annähernd decken. Nicht kommerzielle Projekte mit offenem Programmcode verfügen weder über die nötigen Finanzen, noch habe sie einen so privilegierten Zugang zu Daten wie die Internetkonzerne.
Die großen Sprachmodelle werden »trainiert«, wie es in der KI-Entwicklung etwas vermenschlichend heißt. Für das Training muss eine riesige Menge geeigneter Daten gesammelt und geordnet werden. Sätze oder Satzteile werden von Angestellten klassifiziert. Menschen beurteilen anschließend die Sätze, die das System erzeugt, indem sie diese Ausgaben in eine Rangliste ordnen. Anhand dieses Rankings wird ein »Belohnungsmodell« entwickelt, eine komplexe mathematische Funktion, mit der die KI ihre Ausgaben optimiert.
»ChatGPT ist wie ein Papagei, an dem sehr, sehr viele Menschen vorbeigelaufen sind«, lautet ein Kalauer, der gerade die Runde macht. In Wirklichkeit handelt es sich eher um einen Papagei, der für jede richtige Antwort ein Leckerli bekommt. Der Lernvorgang – um abermals ein vermenschlichendes Sinnbild zu verwenden – beruht auf der Etikettierung und Korrektur durch die Mitarbeiter.

Politisch korrekt
Die Entwickler müssen Rassismus und Sexismus klassifizieren, damit die Nutzer:innen davon verschont bleiben. Dazu gehört auch, dem Chatbot politisch korrekte Umgangsformen beizubringen. Im Fall von ChatGPT ist das außerordentlich gut gelungen, allerdings zu einem hohen Preis.
Rassistische, sexistische, gewaltverherrlichende oder allgemein menschenfeindliche Äußerungen müssen klassifiziert werden. Damit beauftragte OpenAI das Unternehmen Sama, das unter anderem in Indien, Kenia und Uganda tätig ist. Für die Klassifizierung unerwünschter Inhalte erhielten die kenianischen Beschäftigten zwischen 1,32 und 2 US-Dollar. Einige von ihnen mussten dafür tagelang Beschreibungen sexueller Gewalt lesen und analysieren.
»Diese Technologie braucht sehr viel menschlichen Input, und viele Menschen arbeiten unter schrecklichen Bedingungen«, sagt Milagros Miceli. Die Soziologin und Informatikerin hat in Argentinien, Syrien und Bulgarien die Arbeitsbedingungen von Datenarbeitern untersucht. »Zwischen dem Anspruch, Diskriminierungen auf jeden Fall auszuschließen, und der Aufgabe dieser Datenarbeiter klaffen Welten.«
Milagros Miceli unterscheidet zwischen Beschäftigten, die Daten erzeugen, und solchen, die existierende Daten klassifizieren und mit Anmerkungen versehenen (data annotation). »Sie suchen online nach Bildern oder geeignetem Text, sammeln Daten, die es bereits gibt. Teilweise müssen sie die Daten erst schaffen, indem sie z.B. Selfies, Fotos oder Tonaufnahmen machen.«
Ein Grenzfall ist die sog. Impersonation (»Nachahmung«): »Menschen tun so, als ob sie Chatbots wären, weil das für die Unternehmen billiger ist. So etwas gibt es z.B. in Callcentern in Afrika.« Viele der Unternehmen in diesem Bereich seien Venture-Capital-Firmen. Sie stünden unter dem Druck, schnell KI zu präsentieren, um die Investoren zufriedenzustellen – oder etwas, das wie KI aussieht.
Die Arbeit wird von Business-Process-Outsourcing-Unternehmen (BPO) organisiert und über Internetplattformen vergeben. In Argentinien verdienen die Datenarbeiter laut Milagros Miceli typischerweise den Mindestlohn. Sie kritisiert die oft gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen: »Die Beschäftigten arbeiten oft von zu Hause aus mit ihren eigenen Geräten. Eine eintönige Aufgabe, schädlich für die Augen, insbesondere wenn sie mit minderwertigem Equipment arbeiten. In Südamerika arbeiten viele Beschäftigte mit kleinen alten Netbooks, in Afrika manche mit dem Handy.«

Gegenwehr ist schwierig
Die Möglichkeiten, sich zu wehren und die eigenen Interessen zu vertreten, sind beschränkt, sagt Milagros Miceli. »Die Arbeit ist über die ganze Welt verteilt. Das ist nicht wie die Plattformen der Gig-Economy, Uber oder Lieferando, wo die Beschäftigten einander bei der Arbeit begegnen. Datenarbeiter haben keinen Kontakt untereinander. Außerdem sind die Unternehmen sehr mobil – wenn die Leute in Syrien oder Argentinien sich auflehnen, gehen sie eben woanders hin.«
Die andere Seite der KI-Arbeitsteilung hat Robert Dorschel, ein Soziologe an der niederländischen Universität Tilburg, untersucht. Er spricht von »Tech-Worker … Data Scientists, Softwareprogrammierer oder User-Experience-Designer. Sie sind hochqualifiziert und erzielen ein relativ hohes Gehalt, teilweise mit Telearbeit von zu Hause, teilweise in den Firmenzentralen.« Diese Beschäftigten seien beruflich mobil, auch international, und wechselten im Schnitt alle drei Jahre das Unternehmen. Laut Robert Dorschel verdienen sie im Durchschnitt ungefähr 80000 Euro im Jahr.
Anders als häufig angenommen haben diese Beschäftigten ziemlich geregelte Arbeitszeiten, berichtet der Soziologe, »in Deutschland etwa 40 Stunden in der Woche, in den USA etwa 50. Sie sind sehr darauf bedacht, Überlastung und Burnout zu vermeiden«.

Ingenieure des Internet
Bemerkenswert sind Dorschels Ergebnisse zu den gesellschaftspolitischen Einstellungen der Tech-Worker. »Sie kennzeichnet eine gewisse Achtsamkeit gegenüber Ungleichheit, sowohl gegenüber ökonomischer Ungleichheit als auch gegenüber Diskriminierung. Sie wollen dazu beitragen, die Welt zu verbessern, anderen zu helfen, Diskriminierung abzubauen.«
Bei Dorschels Untersuchung fanden sich drei Typen von Klassenbewusstsein. »Die radikalen Tech-Worker machten ungefähr ein Viertel aus. Sie lehnen es ab, für große Tech-Konzerne zu arbeiten und bevorzugen Start-Ups. Obwohl sie sich als Mittelschicht begreifen, ziehen sie eine klare Grenze zwischen sich und den Unternehmensgründern, Bossen und Risikokapitalgebern. Ein weiteres Viertel ist unkritisch, affirmativ – Leute, die später selbst eine eigene Firma gründen wollen. Die Mehrheit ist reformorientiert. Sie wollen Big Tech reformieren, nicht enteignen.«
Robert Dorschel spricht von »Ingenieuren des digitalen Raums«. »Sie planen, programmieren und managen digitale Dienstleistungen, sie bauen Algorithmen und Apps. Ihr Berufsethos ähnelt dem traditioneller Facharbeiter.« Seiner Ansicht nach bietet das Berufsethos Anknüpfungspunkte für Gewerkschaften. In der Praxis organisierten sich allerdings nur sehr wenige. »Von meinen 52 Interviewpartnern waren es nur zwei. Das liegt allerdings auch daran, dass die meisten bis dahin überhaupt keinen Kontakt zu Gewerkschaften hatten.«
Bekannt wurde der Begriff durch die Tech Workers Coalition (TWC), gegründet 2014 an der Westküste der USA. »Die TWC ist keine Gewerkschaft, sondern eher eine Art Plattform für Vernetzung und Bildung. Mittlerweile ist sie auch in Berlin sehr aktiv.«

Die Zitate von Milagros Miceli und Robert Dorschel stammen aus einer Folge des Podcasts Was tun von Valentin Ihßen und Inken Behrmann, zu finden unter https://linktr.ee/wastun.

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