Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei am 14.Mai hat vor allem die extreme Rechte zugelegt
von Masis Kürkcügil
Die Türkei wird seit Jahren von zwei Bündnissystemen beherrscht, dem »Volksbündnis« aus den rechtskonservativen bzw. radikal-islamistischen Parteien AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) und MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) und dem hauptsächlich von der sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei) geführten und von kleinen Parteien unterstützten »Bündnis der Nation«.
Zu diesen kleinen Parteien gehören mehrere Abspaltungen von der AKP und der MHP, außerdem die traditionell-islamistische Saadet Partisi (SP – Partei der Glückseligkeit), die in Deutschland von der als »Islamische Gemeinschaft Milli Görüs« bekannten Organisation unterstützt wird. Diese Kombinationen zeigen, dass in dem zweiten Bündnis, das als große Opposition wahrgenommen wird, keine Links-rechts-Einordnung möglich ist.
Die beiden Bündnisse hatten jeweils die Konkurrenten Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu als Kandidaten für die Präsidentschaftswahl aufgestellt. Kilicdaroglu wurde zudem von der sozialistischen Linken und von der HDP (Demokratische Partei der Völker) unterstützt, die gemeinsam das linke »Bündnis für Arbeit und Freiheit« bildeten.
Erdogan (AKP) erzielte 49,5 Prozent, Kilicdaroglu (CHP) 44,9 Prozent.
Verluste auf der Linken
Wegen der Unzufriedenheit mit der Pandemiepolitik und dem Erdbeben am 5.Februar schien es, als sei die Unzufriedenheit mit der Regierung gestiegen. Die Wahlergebnisse vom 14.Mai zeigen allerdings, dass diese Unzufriedenheit in der Masse der Erdogan-Unterstützer:innen nur kleine Zweifel bewirkt hat. Dennoch ist der Stimmenanteil für die AKP prozentual sowohl bei den Präsidentschafts- als auch bei den Parlamentswahlen zurückgegangen. Das ist die zweite Wahl, wo dieser Trend zu beobachten ist.
Er war Erdogan auch bekannt, weshalb er für ein paar hunderttausend Stimmen die der Hisbollah nahestehende, die Scharia fordernde, von sunnitischen Muslimen vorwiegend kurdischer Herkunft gegründete Hür Dava Partisi (Partei der freien Sache) in sein Bündnis geholt hat.
Die zweite Partei im Regierungsbündnis, die MHP, hat mit 10,4 Prozent einen überraschenden Erfolg erzielt, die Umfragen sahen sie unter 7 Prozent. Dagegen erreichte die IYI-Parti (Gute Partei), eine Abspaltung der rechtsextremen MHP, nicht einmal die Hälfte der ihr vorausgesagten 20 Prozent.
Auch für die HDP ist das Wahlergebnis enttäuschend. Sie hatte ihre Kandidat:innen auf den Listen der Partei Grüne Linke aufgestellt, weil ein Prozess zum Verbot der HDP in seiner Endphase ist. Die HDP erzielte bei den Wahlen 2018 11,7 Prozent, davor im Jahr 2015 13 Prozent. Sie ist am Sonntag auf 8,8 Prozent gesunken. Zählt man noch die 1,7 Prozent für die Türkische Arbeiterpartei (TIP) hinzu, sind die Verluste eindeutig. In den Gebieten, in denen die HDP stark ist, stagnierte die Wahlbeteiligung bei 80 Prozent, während sie in der Gesamttürkei 88,5 Prozent erreichte.
Das Interesse der Massen war für die Wahlveranstaltungen beider Lager groß. Diese Mobilisierung zeigt sich nicht in anderen gesellschaftlichen Kämpfen. Die Arbeiterbewegung ist nicht sichtbar, Streiks werden mit geringer Beteiligung organisiert.
Die Gewerkschaften sind ebenfalls unsichtbar. Die seit Jahren starke Frauenbewegung verliert an Kraft, an den Universitäten jagen faschistische Studenten Linke. Die Polizei geht massiv und brutal gegen jegliche Opposition vor. Die fast abgöttische Präferenz der nationalistischen Wähler:innen für Erdogan und die Unfähigkeit der Opposition, eine gesellschaftliche Bewegung für ihre Forderungen zu organisieren, sind große Hindernisse für die Überwindung der Spaltung in nationale und religiöse Identitäten.
Der Autor ist Schriftsteller, Verleger und Kandidat der TIP.