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PDF Version Artikellink per Mail  | Soz Nr. 07/2023

Der radikale Flügel will eine Allianz bilden
von Michael Schwarz

Vom 16. bis 18.Juni fand in Köln die jährliche Strategiekonferenz der Klimabewegung statt. Etwa 140 Teilnehmer:innen, von anarchistischen Kleingruppen bis zur Letzten Generation, diskutierten vier Tage lang über den Stand der Bewegung und die nächsten Schritte. Die Haltung zur Linkspartei und eine mögliche bewegungsübergreifende, antikapitalistische Allianz standen dabei im Vordergrund.

Die Situation der Bewegung ist kompliziert – und der Rahmen der Konferenz spiegelt das wieder. Da immer mehr Gruppen teilnehmen, musste das Zusammenkommen dieses Jahr in der Universität Köln stattfinden, da dort genügend Räume gleichzeitig zur Verfügung stellen. Die Umgebung ist für nichtakademische Teilnehmer:innen ungewohnt, die Lagepläne unübersichtlich, die Räume für Veranstaltungen ändern sich ständig.
Das Organisationsteam hat viel dafür getan, die Lernprozesse innerhalb der Bewegung auf die Konferenz zu übertragen. Es wurden ausschließlich mit dem Rollstuhl erreichbare Räumlichkeiten genutzt, ein Awarenessteam unterstützte Betroffene vor möglichen diskriminierenden Übergriffen, und während der gesamten Dauer wurden sogenannte Safer-Spaces angeboten. Dabei handelte es sich um Räume, die lediglich Betroffenen von bestimmten Diskriminierungsformen offenstanden, z.B. für FLINTA, BPOC* oder behinderte Menschen. Sie konnten für Rückzug oder gemeinsame Organisierung genutzt werden.
Es kamen weniger Teilnehmer:innen als erwartet. Über die Gründe kann nur spekuliert werden, doch spiegelt dies durchaus den Stand der Bewegung wieder. Nach der Räumung von Lützerath, dem letzten aktionistischen Höhepunkt, ist eine Ruhephase eingetreten. Die öffentliche Aufmerksamkeit verlagert sich auf die reformistischen Forderungen der Letzten Generation und der radikale Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung rückt näher zusammen. Letzterer war immer noch in großer Vielfalt anwesend: Das Blockadebündnis Ende Gelände war vertreten, mehrere Ortsgruppen von Fridays for Future, die Hochschulbesetzer:innen von End Fossil, aber auch viele alleinstehende Gruppen wie ausgeco2hlt oder Zucker im Tank.

Neue Ansätze
In verschiedenen Workshops wurden vor allem am Samstag und am Sonntag neue strategische Ansätze diskutiert. So z.B. der Vorschlag, durch eine Initiative innerhalb der Linkspartei zu ihrer Erneuerung beizutragen und zu verhindern, dass diese linke Kraft aus dem Parteienspektrum verschwindet.
Junge Aktivist:innen aus dem Umfeld von End Fossil schlugen vor, sich auf wichtige klimabezogene Ereignisse vorzubereiten, die große öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Dann sollen in vielen Städten Climate Action Points im öffentlichen Raum entstehen, die aufgerüttelten Menschen die Möglichkeit geben, sofort aktiv zu werden.
Am meisten Aufmerksamkeit erfuhr jedoch eine Initiative der Aktions-AG von Ende Gelände, den diese bereits im Vorfeld auf dem Debattenblog Klimax.online veröffentlicht hatte. Nach dem Vorbild der französischen Soulèvements de la Terre (Die Aufstände der Erde) soll eine Allianz gegründet werden, die den gesamten radikalen Flügel der Klimagerechtigkeitsbewegung umfasst. Diese wäre offen für alle Gruppen, die sich auf ein antikapitalistisches, antiautoritäres, antikoloniales und queerfeministisches Selbstverständnis einigen können. Dabei behalten die einzelnen Gruppierungen ihre Identität, planen aber gemeinsam Aktionen und stellen sie unter den Namen der neuen Allianz.
In Frankreich hat die radikale Klimabewegung mit dieser Strategie zu großer Handlungsfähigkeit gefunden. Während in Köln getagt wurde, mobilisierten Les Soulèvements de la Terre mehr als 5000 Menschen in die italienisch-französischen Alpen, um gegen ein von allen Umweltschutzverbänden abgelehntes Hochgeschwindigkeitsprojekt zwischen Lyon und Turin vorzugehen. Solche Großproteste fallen der deutschen Bewegung durchaus leicht, doch die im Nachbarland erreichte lokale Verankerung fällt uns schwerer: In den vergangenen zwei Jahren wurden dort mehr als 170 Lokalgruppen aufgebaut. Von solchen Größenordnungen kann hierzulande nur geträumt werden, auch deshalb hat die Orientierung am französischen Vorbild Grenzen.
Nichtsdestotrotz birgt das Konzept das Potenzial, die antikapitalistischen Kräfte der Bewegung zu bündeln und ihnen zu stärkerer Sichtbarkeit zu verhelfen – schließlich sieht es auch zeitliche Phasen vor, in denen sich sämtliche organisierte Gruppen auf ein Thema fokussieren. Zur Zeit richtet sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Letzten Generation und deren Forderungen, die zwar wichtig für das Klima sind, aber keine systemkritischen Ansätze in sich tragen. Eine Allianz der radikalen Kräfte, mit einem griffigen Namen und einer klaren Kommunikation, könnte hier das Gewicht verschieben. Denn für eine nachhaltige Lösung der Klimakrise ist es unausweichlich, die Systemfrage zu stellen.

Der Autor ist seit vielen Jahren in der rheinischen Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.

*FLINTA meint Frauen, Lesben, Inter-, Trans- und Agender-Personen. Es ist eine Sammelbezeichnung für alle Menschen, die nicht cis-männlich sind, und schließt z.B. Trans-Männer mit ein. BPOC heißt Black, indigenous and People of Color. Es ist eine von Betroffenen selbstgewählte Sammelbezeichnung, die alle von Rassismus betroffenen Menschen einschließt.

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